Süddeutsche Zeitung

Virtual Reality:"Ich war so erschöpft wie nach einem Langstreckenflug"

Mit 3-D-Brillen werden wir bald in fremde Welten eintauchen können. Aber was, wenn wir nicht wieder auftauchen? Über die Nebenwirkungen einer schönen neuen Welt.

Von Christian Weber

Die großen Expeditionen sind noch in Vorbereitung, erste Tauchgänge wurden bereits unternommen. Etwa von Frank Steinicke, 37 Jahre alt, 1,86 Meter groß, Gewicht: 89 Kilogramm, Rechtshänder. Blut- und Urinwerte okay, ebenso Hör- und Sehleistung, keine Störungen beim Farbensehen: Die Ärzte gaben nach dem Gesundheitscheck grünes Licht.

Am 22. März 2014 um 16:20 Uhr - das Wetteramt meldete Wolken und etwas Regen - setzte sich der Professor für Mensch-Computer-Beziehungen von der Universität Hamburg eine hochauflösende 3-D-Brille auf und begab sich für 24 Stunden in die virtuelle Welt, unterbrochen nur von wenigen kurzen Pausen. "Weltrekord", versichert Steinicke.

Steinicke litt unter der Simulator-Krankheit

Es war keine Reise in eine Welt feuerspeiender Drachen und Aliens mit Strahlenwaffen. Steinicke konnte lediglich zwischen zwei virtuellen Orten wechseln, einer schlichten Wohnung und einer tropischen Insel mit Palmenstrand. Zudem befand er sich die meiste Zeit auf einer Liege. Nicht gerade extrem. Und trotzdem war der 24-Stunden-Ausflug eine irritierende Erfahrung. "Ich war so erschöpft wie nach einem Langstreckenflug, obwohl ich genügend Schlaf hatte", sagt Steinicke heute.

So litt er stark unter der Simulator-Krankheit, einer Übelkeit, die bei vielen Menschen entsteht, wenn die Bewegungen des Körpers nicht exakt mit den visuellen Eindrücken korrespondieren. Einige Male war er sich unsicher, ob er sich gerade in der realen oder der virtuellen Welt befand. Als auf der Insel die Sonne unterging, beschwerte sich Steinicke über aufkommende Kälte, dabei war die Temperatur im Versuchsraum konstant.

Das Hamburger Experiment lieferte Indizien, dass Langzeitaufenthalte in virtuellen Welten Nebenwirkungen haben können. Wieder ein bisschen mehr wird man wissen, wenn der britische Künstler Mark Farid seine für kommendes Jahr geplante Aktion durchzieht und volle 28 Tage in die virtuelle Welt abtaucht. Er will sich dabei Material auf seine VR-Brille einspielen lassen, das zuvor ein anderer Mann über den gleichen Zeitraum mit einer 180-Grad-Video-Kopfkamera und 3-D-Audio aufgenommen hat. Und zwar ohne Schampausen für Bad und Sex. "Das könnte extrem verstörend werden", warnt die Neuropsychologin Barbara Sahakian von der Cambridge University im Independent. "Es ist unklar, ob mögliche Schäden an Marks psychischer Gesundheit jemals wieder repariert werden können."

Über zehn Millionen Menschen reisen bereits in den virtuellen Raum

Wie bei allen großen technologischen Innovationen haben sich bereits die Heilsversprecher und die Apokalyptiker positioniert. Die einen versprechen wunderbare Anwendungen in Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Entertainment. Die anderen warnen vor Langzeitfolgen für die Psyche und Eskapismus. Wahrscheinlich haben beide Gruppen recht.

Es ist eine Diskussion, die geführt werden muss, seitdem vor einem Jahr die ersten hochauflösenden High-End-VR-Brillen auf den Markt kamen, die sich auch der Hobby-Cybernaut leisten kann. Sie kosten meist so um die 800 Euro und erreichen eine Qualität, für die man noch 2010 rund 25 000 Dollar investieren musste. Schon für zehn Euro kann man heute eine Smartphone-Halterung kaufen, die zumindest einen Eindruck vom virtuellen Raum gibt.

"Es mag an dem Medien-Hype im vergangenen Jahr gelegen haben, dass zumindest im Game-Bereich ein bisschen Ernüchterung eingetreten ist. Manche haben zu viel erwartet", gesteht Frank Steinicke aus Hamburg. Die Simulationen sind noch pixeliger als in guten 2-D-Videospielen, manchen fehlt der leistungsstarke Computer. "Aber hey", sagt Steinicke, "bereits jetzt verfügen zehn Millionen Menschen auf der Welt über irgendeine Art von VR-Brille". Unwahrscheinlich, dass der Boom wieder zusammenbrechen wird.

Denn der Grad der Immersion, des Gefühls, wirklich in einer anderen Welt zu sein, ist bereits enorm. Neue VR-Systeme werden weitere Sinne stimulieren, insbesondere den Tastsinn. Mit speziellen Laufbändern zum Beispiel wird man Gamern mehr Mobilität geben. Irgendwann könnten Kontaktlinsen die klobigen VR-Brillen ersetzen; stark vereinfachte Prototypen werden bereits an Kaninchen auf ihre Verträglichkeit getestet. Die Rechnergeschwindigkeit wird so steigen, dass in 15 Jahren VR-Simulationen den sogenannten grafischen Turing-Test bestehen könnten. Man wird nicht mehr unterscheiden können, welche Bereiche einer VR-Umgebung auf realen Aufnahmen beruhen und welche simuliert sind - so wie es heute schon im Kino der Fall ist.

Fast noch beeindruckender könnte es werden, wenn Unternehmen wie Magic Leap in Fort Lauderdale, Florida, ihr Versprechen einer Mixed Reality wahrmachen. Es arbeitet an semitransparenten, leichten Brillen, die einen klaren Blick auf die normale Umgebung erlauben, dann aber virtuelle Objekte und Avatare einspiegeln können.

Wie das einmal aussehen soll, zeigen surreale Videos auf der Webseite der Firma: Da sitzen Schüler am Rande einer Turnhalle, plötzlich bricht ein riesiger Blauwal aus dem Boden, springt in die Luft und fällt unter Getöse und Wassergespritze zurück. Zwei Kinderhände öffnen sich, ein kleiner Elefant erscheint, streckt den Rüssel, trötet niedlich und fliegt davon. Humanoide Roboter fallen von der Decke, der Spieler eröffnet das Feuer im eigenen Wohnzimmer. Bislang haben nur ausgewählte Tech-Journalisten und Investoren die Prototypen der Magic-Leap-Brille testen können. Doch offenbar haben sie überzeugt. Das 2010 gegründete Start-up hat bereits 1,4 Milliarden Dollar Kapital von Firmen wie Google und dem chinesischen IT-Giganten Alibaba eingesammelt.

Spätesten wenn Aliens auf dem Sofa sitzen, wird die Menschheit ein neues Stadium erreicht haben in jenem Prozess, der vor gut 30 000 Jahren begann, als Steinzeitkünstler etwa in der Höhle von Lascaux die ersten Stiere und Auerochsen mit Ocker malten: Die Wirklichkeit erneut gewaltig zu erweitern.

Die Realität endet nicht an der Oberfläche eines Bildschirms

Das ist eine zentrale Einsicht. Es ist ein Fehler, nur materielle Dinge mit Masse und räumlicher Ausdehnung, also das Körperliche, für wirklich zu halten; die Realität endet nicht an der Oberfläche eines Bildschirms. "Menschen haben häufig den falschen Eindruck, dass alles, was in einem Computer passiert, nicht wirklich ist", sagt der Philosoph Tobias Holischka von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der gerade ein Buch zum Thema veröffentlich hat: "CyberPlaces" (Transcript Verlag). "Man sollte vielmehr alles als wirklich verstehen, was eine Wirkung hat." Und eine Wirkung hat eben auch das Virtuelle, selbst das Bild eines Stieres auf der Höhlenwand oder ein Avatar im Computerspiel, der andere Teilnehmer beleidigt. Es kann ein zu Recht justiziabler Akt sein.

Heute muss man den Status von Objekten und Handlungen genauer bestimmen. Ein virtueller Apfel ist in der Tat nur ein Modell - so wie einer aus Gips. Man kann ihn ansehen, aber nicht essen. Anders ist es etwa beim Geld oder Aktenordnern: Es ist egal, ob man mit Scheinen zahlt, oder virtuell eine Online-Überweisung macht, die Funktionalität bleibt gleich. Auch symbolische Folder auf der Cloud können fast alle Funktionen von Aktenordnern erfüllen; zugleich kann man von überall auf sie zugreifen. Philosoph Holischka spricht von einer nur vermeintlichen"Entortung der Welt". Zwar verliert der geografische Ort an Bedeutung, zugleich entstehen immer mehr virtuelle Orte. Virtuelle und reale Welt verschränken sich, Aktionen in der einen Sphäre wirken sich auf die andere aus. Neue Chancen und Risiken eröffnen sich.

"Holodeck" steht auf dem Zettel an einer Tür im Institut für Robotik und Mechatronik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen. Dahinter ein Büro, Blick auf prasselnden Regen und graue Gebäude, ein Computer, auf dem Resopaltisch liegt eine VR-Brille, eine HTC Vive. "Setzen Sie die mal auf", sagt der Wissenschaftler und Ingenieur Ingo Kossyk. Plötzlich tut sich ein neuer Raum vor den Augen auf, etwas pixelig, aber sehr präsent. Draußen scheint nun die Sonne auf eine Berglandschaft. Etwas gewöhnungsbedürftig ist die frei in der Luft schwebende menschliche Hand. Genau um die geht es.

Kossyk und seine Kollegen am DLR haben ein VR-System entwickelt, in dem ein Patient mit amputierten Händen auf einfache Weise lernen kann, eine mechatronische Prothese zu beherrschen, bevor er sie bekommt. In der Regel dauert deren Anfertigung nämlich Monate. Ein an den Stumpf des Unterarms geschnalltes Sensorband erfasst die elektrischen Muskelsignale und sendet sie an den Computer, eine Software steuert daraufhin die Geisterhand im virtuellen Raum.

So können Patienten trainieren, etwa den Turm von Holzklötzchen abzutragen, der auf einem simulierten Tisch steht. Beherrscht der Patient die virtuelle Hand, wird er auch die Prothese kontrollieren können. Manchmal geht das erstaunlich schnell. "Wir haben mal einen Taxifahrer aus dem Irak trainiert, dem hatte eine Bombe beide Hände abgerissen, der konnte schon in der zweiten Sitzung einzelne Finger bewegen", berichtet Kossyks Kollege Markus Nowak.

Das Prothesenprojekt ist nur ein Beispiel von Hunderten: Ebenfalls am DLR lernen Ingenieure gerade, wie man mit VR-Brille, Datenhandschuh und einem mechanischen Assistenzsystem Serviceroboter auf Satelliten steuert. Innenarchitekten und Makler führen ihre Kunden auf virtuellen Touren durch die Räume. Autokonstrukteure prüfen im VR-Modell, ob alles passt. Wer seine Höhenangst oder Spinnenphobie bekämpfen will, muss sich in Zukunft nicht mehr ins Gebirge oder die arachnologische Abteilung im Zoo zur Konfrontationstherapie begeben, sondern am besten in einen Cave (Cave Automatic Virtual Environment). So heißt ein Raum, in dem bis zu sechs Projektionsflächen ganz ohne Brille zu größter Immersion verhelfen: Wer dort einer grimmigen Vogelspinne widerstanden hat, den ängstigt kein Weberknecht im Keller mehr.

Schon bald können Menschen den Mond besuchen

Schon jetzt können Medizinstudenten sich den menschlichen Körper per VR-Brille von innen anschauen, bis hin zum Blutgefäß. Dokumentarfilmer und Journalisten schaffen eindringlichere Bilder, wenn sie das Flüchtlingselend auf dem Mittelmeer im VR-Format dokumentieren. Und schon bald wird jeder Mensch das Unesco-Welterbe aus der Sicht einer Drohne abfliegen können, den Mond besuchen und die schönsten Museen der ganzen Welt besichtigen. Die Frage ist, ob das wirklich nur eine gute Sache ist.

"Es wird viel Tolles kommen, da bin auch ich überzeugt von", sagt der Bewusstseinsphilosoph Thomas Metzinger von der Universität Mainz, der kein Maschinenstürmer ist und dafür plädiert, dass Menschen ihre Bewusstseinszustände frei wählen dürfen. Auch deshalb verfasste er im vergangenen Jahr mit seinem Mitarbeiter Michael Madary im Fachmagazin Frontiers in Robotics and AI einen viel beachteten Ethik-Kodex mit Blick auf die möglichen Risiken der schönen, neuen VR-Welten.

Zum einen verweist er auf die nicht so schönen Anwendungen. So kann man sich streiten, ob es dem Fortschritt der Menschheit dient, wenn militärische Drohnen per VR-Fernsteuerung noch präziser werden. Problematisch sei auch die Gewaltpornografie. Mit Brille und der weiblichen Anatomie nachgeformter Masturbations-Hardware ließen sich etwa auch Vergewaltigungen auf zunehmend realistische Weise nachspielen. "Das ist etwas anderes, als sich einen Film anzusehen", warnt Metzinger. "Es besteht das Risiko, dass strafbare Handlungen leicht konsumierbar werden."

Das ist gefährlich, wenn starke Immersion einen Menschen tatsächlich verändern kann, zum Guten wie zum Schlechten. Wenn VR Höhenangst dämpfen kann, dann vielleicht auch die Hemmungen, anderen Menschen aus Fleisch und Blut etwas anzutun. Unklar ist, wie lange Aufenthalte im virtuellen Raum - selbst bei unproblematischen Inhalten - den Geist beeinträchtigen. So weiß man aus Träumen, dem Phänomen des Phantomschmerzes und Out-of-Body-Erfahrungen, dass die Körperwahrnehmung nicht hundertprozentig stabil ist.

Schon mit simplen Experimenten lässt sie sich austricksen. Berühmt ist die Gummihand-Illusion: Der Versuchsleiter lässt einen Menschen auf eine realistisch aussehende, in plausibler Position liegende Gummihand blicken. Dann streichelt er gleichzeitig diese und die verdeckt liegende echte, biologische Hand. Unwillkürlich empfindet sie der Proband nach kurzer Zeit als Bestandteil des eigenen Körpers.

Auf ähnliche Weise gelang es, manchen Menschen das Gefühl zu geben, sie hätten gerade ihren Körper verlassen. Was kann da erst passieren, wenn Menschen sich stundenlang in den Körper von Avataren aufhalten? "Niemand weiß das so genau. Wir starten gerade einen Massenversuch", sagt Metzinger.

Langzeitstudien zu den Nebenwirkungen von VR-Aufenthalten sind überfällig. Zumal die Entwicklung weiter geht. "Wer weiß, was passiert, wenn KI, Robotik und VR zusammenwachsen?", fragt Metzinger. "Wenn man einem humanoiden Avatar begegnet, der sich in fehlerfreiem Deutsch und dem Wissen von IBM-Watson mit einem unterhält?" Dann entstünden "robuste soziale Halluzinationen", die einen verstören könnten.

Manchmal, so erscheint es, schätzt auch Metzinger kleine Ausbrecher aus dieser Welt, so wie vergangene Woche, als ein Baum vor seinem Haus umfiel, die Telefonleitung umriss und ihn vier Tage lang weitgehend von Fernsehen und digitaler Kommunikation abschnitt.

Für relativ viele Menschen wäre eine solche Situation der Gau, glaubt der Ärztliche Psychotherapeut Bert te Wildt von der Universität Bochum. Auch wenn Fachleute über die Diagnose streiten, er spricht von mindestens 600 000 Internet-Süchtigen in Deutschland - "mit der VR wird die Weltflucht noch zunehmen." Das hat ihm zuletzt der Besuch der Spielemesse Gamescom klargemacht, als er selbst, ein Höhenphobiker, in einen VR-Raum eintauchte und auf einer schwebenden Plattform in einer riesigen Halle mit einem konkurrierenden Avatar Frisbee spielte: "Ich war völlig geflasht, ein Rauscherlebnis, wie ich es noch nie erlebt hatte, mir sträuben sich noch jetzt die Nackenhaare." Gerade deshalb stellt er eine weitere Frage: "Was ist eigentlich, wenn ich aus dem positiven Rausch in ein emotional und sozial wesentlich ärmeres Realleben zurück muss?"

Manche wollen die Sterne nicht bestaunen, sondern verschieben

Das ist wohl die Kernfrage. Man kann noch immer mit gutem Grund, so wie Thomas Metzinger, der Ansicht sein, dass "die analoge Welt unschlagbar ist" - wenn man sie achtsam betrachtet, deshalb lieber im Wald spaziert als in die VR-Brille zu gucken. Bert te Wildt hat recht, wenn er davor warnt, dass existenzielle Dinge des Lebens wie Geburt und Tod, Krankheit und Hunger wohl analoge Phänomene bleiben werden. Dennoch: Was wird mit denen sein, die aus der Ödnis ihres Lebens fliehen wollen? Denen die Benutzeroberfläche der herkömmlichen Welt nicht genügt?

Über ein "seltsames Gefühl von Traurigkeit" nach mehrstündigen Aufenthalten in der VR berichtet der deutschstämmige, in New York lebende Designer Tobias van Schneider in seinem Blog. In den ersten Minuten in der analogen Welt fühle er sich fremd, der Touchscreen des Smartphones erscheine ihm fade, der Himmel etwas farblos und ohne Magie, besonders stark sei dieser Eindruck dann, wenn er etwa im VR mit Feuer gemalt hatte. Ihm fehlen die Superkräfte: "Ich möchte den Himmel berühren, die Wolken drehen, sie auseinanderziehen und auf ihnen malen."

So könnte es sein, dass schon bald ein unter Nerds beliebtes Shirt gar nicht mehr nur scherzhaft wirkt. Auf ihm steht: "War kürzlich in der Realität. Fand die Grafik nicht gut."

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Quelle:
SZ vom 04.02.2017/avr
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