Süddeutsche Zeitung

Virtual Reality:Der Traum vom Fliegen rückt näher

Dank virtueller Realität tauchen Menschen in fremde Welten ein. Schweizer Forscher haben einen Simulator gebaut, mit dem sich fliegen lässt wie ein Vogel. Zu Besuch in einer Traumwerkstatt.

Reportage von Christian Endt

So muss es sich anfühlen, wenn man mitten im Flug aus einem Hubschrauber fällt. Unter einem nur der Beton und Asphalt von Manhattan. Links und rechts nichts. Hinten und vorne auch nichts. Nichts zum Festhalten, um den freien Fall zu verhindern. Laut pfeift der Wind um die Ohren. Das Herz rast, die Hände sind nass vor Schweiß. Der Absturz muss jeden Moment kommen.

Dabei war der Boden unter den Füßen eben noch fest und stabil. Bis diese Virtual- Reality-Brille auf der Nase saß und der Körper auf diesem Gestell mit dem Propeller und den beiden Tragflächen lag. "Birdly" ist ein Flugsimulator des Schweizer Start-ups Somniacs. Er zeigt, was mit virtueller Realität heute möglich ist.

Der befürchtete freie Fall bleibt aus. Nur langsam zieht die Schwerkraft in Richtung Boden, wie ein Kopf, der ins Kissen sinkt. Über zwei Griffe lassen sich die Tragflächen von Birdly fassen und mit kräftigen Armbewegungen auf und ab schwenken. Der Flügelschlag gibt Auftrieb, der Sinkflug endet. Es beginnt ein magisches Gleiten über die Dächer der Stadt.

"Wir wollten, dass der Benutzer in die Haut eines Vogels schlüpfen kann", sagt Max Rheiner, der Kopf hinter Birdly. Dabei habe es nur ein Problem gegeben: "Niemand weiß, wie sich ein Vogel beim Fliegen fühlt." Also hätten sie sich ein anderes Vorbild gesucht. "Die meisten Menschen träumen in ihrem Leben mal vom Fliegen. Wir haben versucht, das Erlebnis nach diesen Träumen zu gestalten."

Ein Ventilator simuliert den Flugwind

Die Traumwerkstatt von Somniacs steht auf einer Brachfläche im Züricher Stadtteil Altstetten. Unter dem Namen "Basislager" beherbergt das Gelände eine verstreute Ansammlung von Containern, in denen Künstler, Handwerker und kleine Firmen Arbeitsräume mieten können. Somniacs teilt sich ein paar windschief aufeinandergestapelte Frachtcontainer mit einem Künstlerkollektiv.

Zwischen Schreibtischen und Werkzeugkisten steht der Birdly-Prototyp. Die Maschine braucht etwa so viel Platz wie ein Kickertisch. In einem weißen Gehäuse sitzt die Elektronik. Oben liegt der Pilot, die Arme seitlich auf die Flügel gestreckt. Unter der Tragfläche von Birdly arbeiten mehrere Motoren, die die Bewegungen des Flugs nachahmen: Gewinnt der Benutzer in der Virtualität an Höhe, hebt sich die Plattform an. Geht er in den Steigflug, neigt sich Birdly nach hinten, im Sinkflug nach vorne. In Kurven rollen sich Simulator und Pilot auf die Seite. Vor dem Kopf des Benutzers haben die Entwickler einen Ventilator angebracht, der den Flugwind erzeugt. Er ist dynamisch gesteuert und wird stärker, je schneller man fliegt.

An sich sind diese Effekte relativ simpel. Auch die auf der Virtual-Reality-Brille angezeigte Grafik ist grob, die Software hängt dem aktuellen Stand der Technik um einige Jahre hinterher. Doch sind die einzelnen Komponenten bei Birdly besonders gut miteinander abgestimmt. Das Gesamterlebnis lässt den Schiffscontainer in Zürich schnell in Vergessenheit geraten. Und schürt die Angst, gleich vom Himmel über New York zu fallen.

Die Brille "Oculus Rift" bedeutet einen Durchbruch für Virtual Reality

Das Eintauchen in eine andere, künstliche Welt ist ein alter Traum. Der polnische Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem etwa hat schon in den 1960er-Jahren über virtuelle Realität nachgedacht. Doch bis vor wenigen Jahren fehlte die passende Technik. Weil der Mensch seine Umgebung in erster Linie visuell wahrnimmt, kommt es vor allem auf die speziellen Brillen an. Das sind Bildschirme, die in einer Art Skibrille untergebracht sind. Zieht man sie auf den Kopf, ist das ganze Blickfeld mit der dreidimensionalen Darstellung auf dem Monitor ausgefüllt. Die Brillen haben einen Bewegungssensor, sodass sich beim Drehen des Kopfs die Perspektive auf der virtuellen Umgebung ändert.

Als Durchbruch gilt die Brille "Oculus Rift", die 2013 vorgestellt wurde und deren Hersteller inzwischen zu Facebook gehört. Seit Ostern liefert Oculus die Rift an Endverbraucher. Auch Birdly arbeitet mit dem Modell. "Endlich können wir die Ideen umsetzen, die wir schon lange haben", sagt Rheiner. Ein Problem war früher die Reaktionszeit: Wenn der Benutzer den Kopf etwa zur Seite dreht, muss sich das Bild schnell genug mitbewegen. Nimmt das Gehirn eine Verzögerung wahr, ist es irritiert und das virtuelle Erlebnis dahin.

Hirnforscher der University of California in Los Angeles haben untersucht, wie Ratten auf virtuelle Realität reagieren. Wenn die Versuchstiere sich mittels eines Bildschirms durch eine virtuelle Welt bewegten, hatten sie Probleme, diese Umgebung zu erfassen, so berichteten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Nature Neuroscience vor zwei Jahren.

Anders als bei realen Bewegungen legten die Tiere für die virtuelle Welt keine kognitiven Karten an, um den Raum im Gehirn nachzubilden. Die Augen allein reichen also nicht aus, um sich zu orientieren. Forscher der Princeton University publizierten etwa zur gleichen Zeit eine Studie mit einem anderen Experiment, in dem sich Ratten um die eigene Achse drehen und so auch ihren Gleichgewichtssinn einsetzen konnten. Nun bildeten die Rattenhirne kognitive Karten, ähnlich denen für die reale Welt.

"Das Zusammenspiel der verschiedenen Sinne vermittelt dem Gehirn einen tieferen Eindruck der virtuellen Umgebung", sagt Kay Thurley, der an der Universität München selbst mit Nagetieren und virtueller Realität experimentiert: "Wenn diese Kombination überzeugend umgesetzt wird, kann die Wirkung dem realen Erlebnis sehr nahe kommen." Auch Heinrich Bülthoff vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik betont die Bedeutung des Gleichgewichtssinns: "Mit den Augen sind wir kaum in der Lage, Beschleunigung zu erfassen.

Deshalb ist es sehr wichtig, das Innenohr anzusprechen." Auch die Raumakustik sei von Bedeutung, da sei die Technik aber schon weit. "Wenn alle Komponenten gut genug simuliert werden, wird das menschliche Gehirn irgendwann keinen Unterschied zwischen virtueller und realer Welt feststellen können", sagt Bülthoff.

Als der Himmel halbwegs unter Kontrolle ist, wird es Zeit für den ersten Sturzflug. Auf Höhe der Dächer von Midtown werden die Geräusche der Stadt wahrnehmbar: hupende Taxis, brummende Motoren, Polizeisirenen. Der Vogel taucht in die Häuserschluchten ein.

Es fühlt sich an, als würden die Flügel beinahe links und rechts an den Gebäudemauern hängen bleiben. Dabei sollte der Platz eigentlich reichen: Unten liegt eine vierspurige Straße. Ein Schwarm Tauben kommt entgegen. Ansonsten ist die Stadt noch ziemlich unbelebt: Die Autos bewegen sich nicht, Menschen fehlen, viele Straßen sind leer.

Birdly ist ein anspruchsvolles technisches Produkt. Entstanden ist der Flugsimulator aber als Projekt an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Max Rheiner hat sich sein Leben lang zwischen Kunst und Technik bewegt. "Als Kind wollte ich entweder Künstler oder Game-Entwickler werden", sagt er. Rheiner machte zunächst eine Ausbildung zum Elektroniker, beschäftigte sich mit 3-D-Programmierung und studierte Medienkunst an der ZHdK, wo er heute als Dozent arbeitet. Viele Mitarbeiter haben ähnliche Biografien. Einen Programmierer etwa fand Rheiner unter seinen Masterstudenten. Der hat einen Abschluss in Musikproduktion und kümmert sich bei Birdly auch um die Geräusche.

"Vielleicht lässt sich das gegen Depression einsetzen"

Auch wenn der Birdly-Flug einem Traum gleichen soll, hat die Maschine ein reales Vorbild. "Ursprünglich dachten wir an einen Rotmilan", sagt Rheiner. Der fliege besonders schön und sei in der Schweiz weit verbreitet. Sie hätten allerdings nicht versucht, den Flugapparat des Rotmilans für Birdly exakt nachzubauen: "Wenn wir physikalisch richtig simulieren würden, wie ein Vogel fliegt, wäre das nicht wirklich unterhaltsam."

Der Kraftaufwand wäre zu groß, außerdem würde man bei jedem kleinen Fehler sofort abstürzen. "Was der Vogel in seiner DNA hat, müsste der Mensch erst mühsam lernen", sagt Rheiner. Birdly macht es seinen Nutzern etwas leichter, den Flug zu kontrollieren.

Ursprünglich entwickelte Rheiner Birdly an der ZHdK im Auftrag der Naturschutzorganisation Bird-Life. Die setzten ein Vorgängermodell des Simulators auf einer Sonderausstellung zum Thema "Fliegen wie die Vögel" ein. Die Reaktionen seien "durchweg positiv bis begeistert" gewesen, sagt Stefan Heller von Bird-Life.

Kurz vor dem Asphalt der Fahrbahn endet der Sturzflug, durch ein Heben der Flügel. Beschleunigen, dann eine scharfe Kurve um die nächste Häuserecke. Nach wenigen Minuten geht die Kraft aus - nicht virtuell, sondern ganz real. Schwindel setzt ein. Einen echten Vogel hätte die Evolution so längst aussortiert. Erst langsam setzt der Lernprozess ein: Hoch oben langsam dahingleiten, sich in aller Ruhe umschauen. Ab und zu ein weiter, gemächlicher Flügelschlag. Den Überblick bewahren, jede unnötige Anstrengung vermeiden.

Max Rheiner ist gerade viel in der Welt unterwegs, stellt Birdly auf Messen und Kongressen vor. Inzwischen läuft eine kleine Serienproduktion an, zehn bis zwanzig Birdly-Exemplare will Somniacs dieses Jahr von einer Firma in Baden-Württemberg herstellen lassen. Die Zielgruppe sind Freizeitparks, Spielhallen oder Tourismus-Anbieter. In Zukunft kann sich Rheiner auch therapeutische Anwendungen vorstellen: "Fast alle, die von Birdly runterkommen, lächeln, fühlen sich erleichtert und beschwingt. Vielleicht lässt sich das gegen Depressionen einsetzen", sagt er.

Tatsächlich fühlt es sich am Ende des Fluges auch ein bisschen beschwingt an. Vor allem aber müde und erschöpft. So sehr der Mensch auch vom Fliegen träumt, gebaut ist er doch eher für die Fortbewegung auf zwei Beinen.

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Quelle:
SZ vom 02.04.2016/chrb/fehu
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