Süddeutsche Zeitung

Viktoriasee vor dem Öko-Kollaps:Darwins Badewanne läuft aus

Sinkender Wasserspiegel, fremde Arten, Klimawandel - kaum irgendwo in Afrika zeigen sich die Wechselwirkungen unterschiedlichster ökologischer Probleme so deutlich wie am Viktoriasee.

Frank Kürschner-Pelkmann

Den Hafen von Kisumu, der größten kenianischen Stadt am Ufer des Viktoriasees, kann kein Schiff mehr anlaufen. Sie müssen 15 Meter vor dem alten Anleger ankern. Dichter ran geht nicht, das Wasser ist zu flach. Allein zwischen 1998 und 2004 ist der Wasserspiegel des zweitgrößten Süßwassersees der Erde um 2,3 Meter gesunken.

Als hätte jemand einen Stöpsel aus dem Becken gezogen.

Der Stöpsel, das sind zwei Staudämme am nördlichen Abfluss des Sees. Mitte der 1950er Jahre errichtete Uganda dort den Nalubaale-Damm, um Strom aus Wasserkraft zu gewinnen. 2002 kam direkt daneben der Kiira-Staudamm dazu, um den wachsenden Energiebedarf zu decken.

Uganda hat sich bei den anderen See-Anrainern Kenia und Tansania vertraglich verpflichtet, die Kraftwerke so zu regulieren, dass der Wasserstand des Sees stabil bleibt.

Nur hält sich das Land nicht mehr an die Vereinbarung. Uganda lässt zu viel Wasser aus dem See in den weißen Nil strömen, das hat die "Kommission für das Viktoriasee-Bassin", in der Vertreter aller drei See-Nachbarn sitzen, im April 2006 nachgewiesen.

Kaum irgendwo in Afrika zeigen sich die Wechselwirkungen unterschiedlichster ökologischer Probleme so deutlich wie am Viktoriasee, der etwa die Fläche von Bayern bedeckt und ungefähr 80 Meter tief ist.

Der Wasserspiegel sinkt nicht nur, weil Uganda zu viel Wasser durch seine Turbinen schickt. Klimaaufzeichnungen zeigen, dass sich die Durchschnittstemperatur in der Region seit 1950 um ein Grad erhöht hat. Mehr Wasser verdunstet, gleichzeitig sind die Niederschläge um 6,6 Prozent zurückgegangen.

Die Wassermenge, die aus dem wichtigsten Zufluss in den See gelangt, hat sich um 22 Prozent vermindert. Gleichzeitig wird der See als Trinkwasserreservoir für die rasch wachsenden Städte am Ufer immer stärker genutzt.

Einzigartige Einblicke in die Entwicklung der Arten

Wenn Ostafrika, wie Anthropologen vermuten, die Wiege der Menschheit war, dann hat der frühe Homo sapiens wahrscheinlich im Viktoriasee gebadet. Erdgeschichtlich betrachtet ist er ein junges Gewässer, etwa eine Million Jahre alt, wie der moderne Mensch.

Für Evolutionsbiologen wie Axel Meyer von der Universität Konstanz bietet der See einzigartige Einblicke in die Entwicklung der Arten. Die Buntbarsche im Viktoriasee sind "Weltmeister der Artenbildung", sagt Meyer. In nur 100.000 Jahren entwickelten sich mehr als 500 Arten aus wenigen Vorfahren.

Jede dieser Arten hat sich an die Lebensbedingungen in einem jeweils kleinen Bereich des Sees angepasst. Dieses Labor der Evolution wird durch den sinkenden Wasserstand bedroht: Weil Feuchtgebiete durch ausgetrocknete Sandflächen vom See getrennt werden, verlieren die Buntbarsche und andere Fischarten ihre angestammten Laichplätze und gehen zugrunde.

Der Viktoriasee und seine natürlichen Ureinwohner leiden jedoch nicht nur am Wasserschwund, sondern auch unter neuen Bewohnern, die der Mensch im vergangenen Jahrhundert eingeschleppt hat: die Wasserhyazinthe etwa, die in den 1950er Jahren von belgischen Kolonialherren aus Lateinamerika nach Ruanda exportiert wurde, um Fischteiche zu verschönern.

Über Bäche und Flüsse gelangte die Pflanze in den Viktoriasee und breitete sich dort explosionsartig aus. Sie bildet einen Teppich, der nicht nur die Schifffahrt beeinträchtigt, sondern auch eine Brutstätte für Malariafliegen und Bilharziose-Erreger bietet. Um der Plage Herr zu werden, wurde der Rüsselkäfer, ein weiterer Fremdling am Viktoriasee, angesiedelt.

Seine Larven ernähren sich von Pflanzen und verkleinerten so die mit Wasserhyazinthen bedeckte Fläche innerhalb von fünf Jahren um neunzig Prozent. Über Flüsse, die in Ruanda und Burundi entspringen, gelangen jedoch stetig neue Wasserhyazinthen in den See.

Im Dezember 2006 mussten vor der Nalubaale-Staumauer täglich 20 Bootsladungen davon abgefischt werden, damit die Pflanzenmassen die Turbinen nicht verstopften.

Absterbende Pflanzenteile der Hyazinthen lassen den Sauerstoffgehalt des Wassers sinken und lösen so ein Fischsterben aus.

Gefräßiger Neuzugang

Dabei ist der einstige Fischreichtum ohnehin stark dezimiert, seit in den 1950er Jahren der Nilbarsch im Viktoriasee ausgesetzt wurde.

Der bis zu 200 Kilo schwere und 1,80 Meter lange Raubfisch hat viele der ursprünglichen Fischarten, darunter die Buntbarsche, vernichtet oder ihre Bestände minimiert.

Wenn diese spektakulären Ergebnisse der Evolution nicht zugrunde gehen, weil sie keinen Laichplatz finden oder im sauerstoffarmen Wasser ersticken, enden sie im Magen eines Raubfisches.

"Die gedankenlose Einführung des Nilbarsches hat zu einem ökologischen Desaster geführt", sagt Axel Meyer. Viele Menschen leben jedoch mittlerweile vom Nilbarschfang, räumt der Evolutionsbiologe ein. Für geschätzte drei Millionen Menschen am See bilden Fischfang und -verarbeitung die Existenzgrundlage und für 30 Millionen in weitem Umkreis ist der Fisch ein wichtiges Lebensmittel.

Inzwischen ist der Raubfisch auch in Europa zu einer gefragten Delikatesse avanciert. Mehr als 200 000 Tonnen davon werden in 30 Fischfabriken verarbeitet und per Flugzeug an europäische Fischhändler geliefert.

Das 200-Millionen-Euro-Geschäft geriet 2004 in die Kritik, als der Dokumentarfilm "Darwins Albtraum" zeigte, wie die Fische nach EU-Lebensmittelnorm in afrikanischen Fabriken verarbeitet werden, aber die Armen sich von Fischresten wie Fischköpfen und Gräten ernähren müssen.

Die Kritik hat immerhin bewirkt, dass die Regierung von Tansania den Einsatz von Trawlern mit Schleppnetzen verboten hat, um bedrohte Jungfische zu schützen.

Bald soll der Nilbarsch als Produkt mit Gütesiegel auf den deutschen Markt kommen. Daran beteiligt sind unter anderem eine Fischereiorganisation in Ostafrika, die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GTZ und der Ökolandbauverband Naturland.

"Der Nilbarsch ist inzwischen fest etablierter Teil des Viktoriasee-Ökosystems. Man wird die Einführung einer nicht-heimischen Spezies vor 50 Jahren nicht rückgängig machen können", sagt Kai Wiegler, Fischerei-Fachmann bei der GTZ. "Ziel sollte es daher sein, den Nilbarsch so sozial- und so umweltverträglich wie möglich zu nutzen."

Es gibt noch eine gute Nachricht vom Viktoriasee: Uganda hat eingewilligt, die Energieerzeugung aus Viktoriasee-Wasserkraft von 170 auf 140 Megawatt (MW) zu vermindern, obwohl es schon vorher zu wenig Elektrizität für die wachsende Wirtschaft gab.

Folge der Kapazitätseinschränkungen sind häufige Stromsperren, die nicht nur private Haushalte treffen, sondern auch die Industrie und die übrige Wirtschaft. Bei voller Leistung könnten die Turbinen 380 MW Elektrizität erzeugen, aber darauf hofft in Uganda schon lange niemand mehr.

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SZ vom 7.3.2007
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