Seismologie:Die Welt kommt zur Ruhe

Seismologie: Ungewohntes Innehalten: Ende März waren die Straßen in Bogotá, Kolumbien, nahezu leer.

Ungewohntes Innehalten: Ende März waren die Straßen in Bogotá, Kolumbien, nahezu leer.

(Foto: RAUL ARBOLEDA/AFP)

Durch Menschen verursachte Erdvibrationen sind während der Corona-Pandemie um 50 Prozent gesunken. So still war es noch nie seit Beginn der Messungen.

Von Julian Rodemann

Glasklares Wasser strömt durch Venedigs Kanäle, Delfine schwimmen im Hafenbecken von Cagliari, und Füchse trauen sich in Berliner Vorgärten - die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus verschafften der unter dem Menschen leidenden Natur mancherorts eine offensichtliche Verschnaufspause. Schon bald begannen die Ersten, sich über die vermeintliche "Rückkehr" der Natur lustig zu machen: Auf Twitter kursierten Bilder von Wellensittichen auf Miniatur-Skateboards - "Vögel kehren in die Skateparks zurück. Die Natur erholt sich", stand darüber.

Doch es gibt auch tatsächliche, messbare Auswirkungen des Corona-Lockdowns auf den Planeten, wie eine jetzt im Fachjournal Science erschienene Studie zeigt: Die durch Menschen verursachten Vibrationen der Erde sanken zwischen März und Mai dieses Jahres um die Hälfte, wie ein Team von Seismologen berichtet. Das ist die längste seismische Ruhephase seit Beginn der Aufzeichnungen.

Wenn Menschen durch Innenstädte flanieren, Bagger über Baustellen ruckeln oder Flugzeuge auf Rollfelder hinabdonnern, versetzt das den Erdboden in Schwingung. Wer in der Nähe von Bahngleisen wohnt, spürt, wie der Untergrund zu schwingen beginnt, sobald sich ein Zug nähert. Diese "seismischen Wellen" breiten sich mit hoher Frequenz an der Oberfläche des Planeten aus.

Für Seismologen gleicht der Lockdown einem einmaligen Experiment

Am stärksten sind die durch Menschen verursachten Vibrationen an Arbeitstagen in der Nähe großer Städte. Weihnachten und Silvester sowie das chinesische Neujahrsfest sorgen alljährlich für ruhigere Phasen. Etwas derartiges wie die jüngste Ruhephase aber haben die Autoren der Studie um den Seismologen Thomas Lecocq noch nicht erlebt. "Unsere Studie zeigt zum ersten Mal, wie genau menschliche Aktivitäten Erdkruste und Erdmantel beeinflussen und könnte dabei helfen, klarer zwischen menschlichem und natürlichem Rauschen zu unterscheiden", sagt Co-Autor Stephen Hicks. Mit "Rauschen" meinen Seismologen die dauerhaften Bewegungen des Erdbodens, die nicht durch ein bestimmtes Ereignis wie ein Erdbeben ausgelöst werden.

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Natürliche Quellen für seismisches Rauschen sind etwa Meereswellen oder Stürme. Die Erde vibriert auch ohne Menschen: Jeder Baum, der durch einen Windstoß gebeugt wird, gibt diese Schwingung an den Untergrund weiter. Diesem natürlichen Rauschen können weder Kontaktsperren noch Home-Office etwas anhaben. Für Seismologen gleicht der Lockdown daher einem einmaligen Experiment: Sie können mehr über das natürliche Rauschen erfahren - lästige Geräusche menschlicher Zivilisation stören nicht mehr. Das kennt man aus dem Wald: In der Stille stecken unglaublich viele Geräusche. Man muss nur hinhören.

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