Süddeutsche Zeitung

Verzerrte Wahrnehmung:Ein Gorilla in der Lunge

Wie kann das sein? Suchen Radiologen auf Röntgenbildern nach kleinen Knoten in einer Lunge, dann übersehen sie Dinge, die nun wirklich nicht in das Atmungsorgan gehören.

Von Sebastian Herrmann

Das Offensichtliche trägt ein zotteliges Kostüm, stellt sich in die Mitte des Bildes und trommelt sich auf die Brust. Und was passiert? Die meisten Probanden dieses längst klassischen Tests von 1999 übersehen die Frau im Gorillakostüm, weil sie mit einer Aufgabe beschäftigt sind.

Die Teilnehmer dieser Studie der Psychologen Daniel Simons und Christopher Chabris zählten die Pässe, die drei Basketballspieler in weißen T-Shirts einander zuspielten. Eine fordernde Aufgabe, denn es waren auch drei Spieler in schwarzen Hemden im Bild, die ebenfalls einen Ball hin und herwarfen.

Wer das Video des Tests bei Youtube (siehe unten) betrachtet, sieht ein Gewusel von Menschen - und kann kaum fassen, wie der Gorilla zu übersehen ist, der irgendwann auftaucht und durch die Szene läuft.

Auch die Psychologen um Trafton Drew von der Harvard Medical School waren verblüfft. Und sie stellten sich die Frage, ob sogar Experten für diese sogenannte Unaufmerksamkeitsblindheit anfällig sind, wenn sie eine Aufgabe ihres Fachgebietes lösen müssen.

Das Ergebnis dieser Studie ist ebenso überraschend wie das des Tests mit den Basketballspielern. 20 von 24 Radiologen übersahen das offensichtliche Bild eines Gorillas, das Drew und seine Kollegen in Aufnahmen von Lungen montiert hatten (Psychological Science, online). Das Bild eines Affen in einem CT-Scan übersehen, als Radiologe?

Die Wissenschaftler legten ihren Teilnehmern CT-Scans von fünf Lungen vor. Diese bestanden aus Paketen einzelner Querschnitt-Aufnahmen, die Schicht für Schicht eine vollständige Lunge zeigten. Aufgabe der Radiologen war es, nach Knoten im Lungengewebe zu suchen, die als kleine helle Punkte zu erkennen waren. In das letzte Set von Bildern montierten die Forscher den Affen.

Eigentlich sollte dieser den Radiologen ins Auge springen. Die Gorilladarstellung erreichte die Größe einer Streichholzschachtel und war damit 48-mal so groß wie ein typischer Knoten, nach denen die Mediziner suchten. Zudem befand sich das Tier direkt neben einem hellen Fleck, den die Mehrheit der Teilnehmer auch bemerkte.

Doch tatsächlich übersahen 20 von 24 Radiologen das Affenbild. Selbst wenn die Psychologen direkt fragten, ob ihnen ein Gorilla auf den Bildern aufgefallen sei, verneinten die Radiologen. Auswertungen per Blickerfassung ergaben, dass 12 der 20 unaufmerksamkeitsblinden Radiologen sogar direkt auf den Gorilla geschaut hatten - und den "außergewöhnlichen Reiz", wie die Psychologen das bezeichnen, nicht bemerkt hatten.

Selbst Experten sind also hochgradig anfällig für Unaufmerksamkeitsblindheit. Haben die Radiologen ihren Beruf verfehlt? "Die Knoten zu finden, ist selbst für Experten eine sehr fordernde Aufgabe", sagt Drew. Die Mediziner müssen sich stark konzentrieren, trotzdem erreichten sie nur eine Trefferquote von 55 Prozent.

Laien in einer Kontrollgruppe, die Drew in die Aufgabe einwies, entdeckten sogar nur zwölf Prozent der Knoten. Egal ob Würfe mit einem Ball gezählt oder Gewebeauffälligkeiten gesucht werden: Ist die Aufgabe fordernd, fällt selbst Überauffälliges durch das Raster.

Es widerspreche der Intuition, "aber wahrscheinlich hätten die Radiologen den Gorilla häufiger entdeckt, wenn er kleiner und unauffälliger gewesen wäre", schreiben die Psychologen. Die Mediziner waren schließlich auf die Suche nach winzigen Details eingestellt und erwarteten keine großen, auffälligen Bilder.

Experten sind zwar fehlbar, schneiden aber besser ab als Laien. In der Vergleichsgruppe mit 25 Amateuren fiel bei der gleichen Aufgabe keinem einzigen der Gorilla auf. Wurde der klassische Gorilla-Versuch von Simons und Chabris übrigens mit Basketball-Spielern als Probanden wiederholt, latschte die Person im Affenkostüm auch seltener unbemerkt durchs Bild.

Die Sportler mussten sich weniger stark konzentrieren, um die Pässe zu zählen, sie waren es gewohnt. Experten sind zwar nicht perfekt, aber immerhin ein bisschen besser als Amateure.

Wenn Sie diesen Text gelesen haben, werden Sie den Gorilla im Video nicht mehr übersehen können. Aber zeigen Sie es doch jemanden, der es noch nicht kennt.

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SZ vom 19.07.2013/mcs
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