Süddeutsche Zeitung

Verhaltensforschung:Psst!

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Um durch das Geschrei ihre Jungen nicht zu verraten, unterdrücken Orang-Utan-Mütter die sonst unter Primaten üblichen Warnrufe. Um das herauszufinden, sind zwei Forscher als Raubkatzen verkleidet durch den Urwald geschlichen.

Von Katrin Blawat

Merkwürdige Wesen krochen vor einigen Jahren durch den Dschungel im Norden Sumatras. Waren das Tiger oder andere Großkatzen? Ihre Felle erweckten diesen Eindruck, doch zugleich fehlte den Wesen die katzentypische Geschmeidigkeit. Kein Wunder: Die sich dort auf allen Vieren über den Waldboden bewegten, waren Menschen. Genauer gesagt Wissenschaftler, die herausfinden wollten, wie Orang-Utan-Mütter auf die vermeintlichen Raubtiere reagieren würden. Und offensichtlich erfüllte die Verkleidung ihren Zweck: Wenn Kelly, Elisa und fünf weitere Orang-Utan-Mütter die vermeintliche Gefahr entdeckten, gerieten sie in Stress. Überraschend war für die Forscher jedoch vor allem, was die Primaten nicht taten. Sie stießen keine Alarm-Rufe aus. Erst Minuten später, nachdem die vermeintliche Gefahr wieder verschwunden war, fingen einige Affenmütter an, lauthals ihre Kinder zu warnen.

Das überrascht zunächst, denn ein Tiger zum Beispiel kann Orang-Utans durchaus gefährlich werden. Und diese sind wie viele andere Primaten dafür bekannt, dass sie Artgenossen vor Gefahren warnen. Doch tun sie das keineswegs reflexartig, sondern erst nach einer Abwägung, die noch komplexer ist als bisher bekannt, wie Adriano Lameira und Josep Call von der University of St Andrews nun in der Fachzeitschrift Science Advances berichten. Offenbar verkniffen sich die Weibchen für einige Minuten die Alarmrufe, um ihren Nachwuchs nicht durch die markanten Laute an Tiger und Co. zu verraten. So jedenfalls interpretieren die beiden Autoren ihre Beobachtungen. Für die Forscher, die die Evolution von Sprache untersuchen, ist dieses bewusste Hinauszögern der Warnungen eine aufregende Entdeckung. Nie zuvor habe jemand bei wild lebenden Primaten beobachtet, dass sie über ein bereits zurückliegendes Ereignis kommunizieren, schreiben Lameira und Call.

Mittels Sprache auf Ereignisse zu verweisen, die bereits vergangen sind oder erst noch bevorstehen, gilt als charakteristisch für die menschliche Kommunikation und ist Bestandteil aller gesprochenen Sprachen. Wie genau sich diese Fähigkeit entwickelt hat, ist jedoch unklar.

Die Wissenschaftler verkleideten sich als Raubkatzen. Damit simulierten sie Gefahr

Für ihre Studie wählten die Wissenschaftler sieben Orang-Utan-Mütter aus, deren Nachwuchs fünf Jahre oder älter war. Die Kinder dieser Primaten bleiben bis zu neun Jahre lang in der Obhut ihrer Mütter und lernen in dieser Zeit alles Lebenswichtige über die Gefahren im Dschungel. Die Mütter wurden mit verschiedenen Raubkatzen-Imitaten in Form verkleideter Wissenschaftler auf allen Vieren konfrontiert. In zwölf von 24 Fällen ließen die Affenmütter überhaupt keine Laute hören. Bei den übrigen Begegnungen warteten sie im Durchschnitt noch fünf Minuten nach Verschwinden der vermeintlichen Raubkatze ab, ehe sie Warnrufe ausstießen. Die längste Latenzzeit betrug sogar 17 Minuten. Dabei warteten die Mütter älterer Kinder im Mittel länger mit dem Alarm. Dies interpretieren die Forscher als Zeichen dafür, dass die Latenzzeit nicht zufällig ausfiel, sondern abgestimmt war auf die Situation des jeweiligen Kindes. Sehr junge Orang-Utans wissen noch kaum aus eigener Erfahrung um die Gefahr und sind stärker auf die mütterliche Warnung angewiesen. Andererseits erhöhen die Warnrufe selbst die Gefährdung, weil sie die Aufmerksamkeit des umherstreifenden Raubtiers erst recht auf die Affen lenken.

Die verzögerten Alarmrufe der Mutter wären demnach das Ergebnis einer Abwägung zwischen den Kosten und dem Nutzen für den Nachwuchs. Diese These, die sich bisher nur auf die Daten einer kleinen Stichprobe stützt, sollten weitere Wissenschaftler überprüfen, fordern Lameira und Call.

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Quelle:
SZ vom 19.11.2018
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