Süddeutsche Zeitung

Verhaltensforschung:Faul wie eine Ameise

Sie sammeln unermüdlich Nahrung, reparieren den Bau und versorgen den Nachwuchs? Ameisen gelten als die Workaholics der Tierwelt - diesen Mythos räumen Forscher nun aus der Welt.

Von Sebastian Herrmann

Soziale Insekten genießen einen Ruf als tadellose Arbeitnehmer, die sich im Dienst der Gemeinschaft schier tot schuften. Bienen sind fleißig, Ameisen emsig und andere Krabbeltiere wie Termiten oder Wespen gelten auch als roboterhafte Malocher. Die Vorstellung von diesen Tieren als nimmermüde Arbeiter ist, milde ausgedrückt, übertrieben. Die Entomologen Daniel Charbonneau und Anna Dornhaus von der University of Arizona, in Tucson, zeichnen im Fachblatt Behavioural Ecology and Sociobiology (Bd. 69, S. 1459, 2015) ein anderes Bild: Viele Ameisen, so berichten die Forscher, lassen es ruhig angehen. Während eine Minderheit ohne Pause schuftet, machen erstaunlich viele Tiere in der gleichen Zeit gar nichts. Es scheint im Ameisenbau wie in der menschlichen Arbeitswelt zuzugehen: Ein paar Mitglieder eines Teams erledigen die Arbeit und schleifen die anderen irgendwie mit.

In der Forschungsliteratur finden sich viele Belege dafür, dass in den Staaten sozialer Insekten viele Faulpelze leben. So sind regelmäßig mehr als die Hälfte aller Individuen in Bienenstöcken, Ameisenkolonien, Wespennestern oder Termitenhügeln inaktiv. Das beobachteten auch Charbonneau und Dornhaus in fünf Ameisenkolonien der Art Temnothorax rugulatus.

Ein Viertel der Tiere in der Ameisenkolonie arbeitete gar nicht

Um die Individuen zu unterscheiden, wurden die einzelnen Tiere markiert und über einen längeren Zeitraum mit speziellen Kameras beobachtet. Auf diese Weise erstellten die Wissenschaftler eine Art Ameisen-Schichtplan. 2,6 Prozent der evaluierten Individuen schufteten, ohne nennenswerte Pausen einzulegen - sie kümmerten sich um den Nachwuchs, schafften neue Nahrung ins Nest oder besserten den Bau aus. Etwas mehr als 25 Prozent der Ameisen trugen hingegen nichts zum Gemeinschaftswerk bei. Sie hockten einfach faul herum und taten nichts. Und fast drei Viertel der Ameisen (72,6 Prozent) lümmelten während mehr als der Hälfte des Beobachtungszeitraums ohne Beschäftigung im Ameisenbau herum.

Dienen die Nichtstuer den anderen als Nahrungsquelle in schlechten Zeiten?

Die faulen Tiere geben der Wissenschaft Rätsel auf. Warum machen sie nichts? Der evolutionäre Erfolg staatenbildender Insekten beruhe schließlich darauf, dass die Gemeinschaften wie ein einziger, effizienter Superorganismus funktioniere und in den Kolonien eine strenge Arbeitsteilung herrsche, schreiben Charbonneau und Dornhaus. Wie also können es sich die Kolonien leisten, so viele faule Mitglieder durchzuschleifen? Existiert so etwas wie eine Spezialisierung zum Müßiggänger - so wie Ameisen zu Arbeiterinnen mit einem klaren Tätigkeitsprofil werden, entwickeln sich andere Tiere entsprechend zu Faulpelzen?

Die Wissenschaft weiß keine Antwort. Verschiedene Erklärungen wurden bereits postuliert: Dass die entspannten Tiere als Futterreserve für schlechte Zeiten dienen; dass sie die Arbeitsbrigade bilden, die erst bei plötzlichem Bedarf aktiv wird; dass sie an der Kommunikation in der Kolonie beteiligt sind; dass sie schon in Rente sind oder noch zu jung und so weiter. Nur existieren für keine dieser Ideen bisher stichhaltige Belege.

So ziehen Charbonneau und Dornhaus eben dieses Fazit: "Unsere Arbeit betont die Bedeutung von Inaktivität als Verhaltenszustand und verdeutlicht, wie nötig weitere Studien sind." Faule Forscher würden das weniger aufwendig formulieren: "Keine Ahnung, warum so viele Ameisen nichts tun."

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Quelle:
SZ vom 12.10.2015
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