Verhaltensbiologie:Und jetzt alle

Egoistische Gene oder Teamwork? Für Martin Nowak von der Harvard University ist die Kooperation die Triebfeder der Evolution von Pflanze, Tier und Mensch. Allerdings ist die Annahme unter Biologen umstritten.

Hubertus Breuer

Ein schlichtes Frühstück: eine Tasse Milchkaffee und ein Brötchen. Und doch eine Meisterleistung globaler Kooperation: Kaffee aus Guatemala, die Tasse aus einer Porzellanmanufaktur in Frankreich, die Milch von einer Molkereigenossenschaft und die Semmel vom Bäcker, der das Mehl vom Großhändler bezieht. Die Kaffeemaschine kommt aus China, der Strom aus Kohle- oder Gaskraftwerken. So viel Planung, so viele Entscheidungen und Handgriffe - und all das für die erste Mahlzeit am Tag.

Kältewelle - Erdmännchen in Köln

Die Gruppe  ist mehr als ihre Mitglieder: Um sich vor Fressfeinden zu schützen, übernimmt ein Erdmännchen häufig die Aufgabe eines Wachtpostens, der die anderen warnt. Als Individuum wäre jedes Tier leichte Beute.

(Foto: dpa/dpaweb)

Doch nach einem gerade auf Englisch erschienenen Buch mit dem Titel Supercooperators (Free Press, 352 Seiten) ist die Kooperation keineswegs auf die Menschheit beschränkt. Wie der österreichische Biomathematiker Martin Nowak von der Harvard University gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalisten Roger Highfield darlegt, findet sich Zusammenarbeit überall in der Natur - bei Pflanzen, Tieren, Mikroben und sogar den Urmolekülen des Lebens. Kooperation sei, so Nowak, die Triebfeder der Evolution - ohne sie wäre die Erde nie über eine Ursuppe voller RNA-Moleküle hinausgekommen. Für den Menschen ist diese Botschaft keine andere als jene, die Religion, Philosophie und Dichtkunst predigen: Sei edel, hilfreich und gut. Nur dass Homo sapiens mit diesem Verhalten nicht allein dasteht.

Die bekannte Urformel der Evolution sieht anders aus als Nowaks Neukonzeption. Sie besteht aus Mutation und Selektion - genetische Vielfalt führt dazu, dass die am besten Angepassten überleben und sich bevorzugt fortpflanzen. Deshalb hielt man die Geschichte des Lebens lange für einen von Eigennutz geprägten Überlebenskampf: Es war keineswegs absehbar, dass es zur Kooperation kommen würde.

Doch seit Beginn dieses Jahrhunderts ist das Thema dank Computersimulationen, Laborversuchen und Primatenforschung ins Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit getreten. Nowak gehört zu den ersten Forschern, die das Problem auf ein sicheres mathematisches Fundament stellen wollen. Kooperation, so sein Schluss, ist kein Kuriosum, sondern eine grundlegende Eigenschaft aller Evolution.

Im Zentrum seiner Überlegung steht das Gefangenendilemma, das klassische Problem der Spieltheorie: Zwei Gefangene, die gemeinsam eine Bank ausgeraubt haben, werden getrennt verhört. Der Kriminalbeamte macht jedem ein Angebot. Bezichtigt er seinen Komplizen des Verbrechens, während der andere schweigt, muss er nur ein Jahr hinter Gitter, der Kompagnon aber sechs.

Schweigen beide, erhalten sie eine Strafe von zwei Jahren. Sagen beide gegeneinander aus, erhalten sie vier Jahre Gefängnis. Ganz egal also, wie sich der andere verhält, hat jeder der Verbrecher einen Vorteil davon, auszusagen. So gehen beide wohl für vier Jahre ins Gefängnis. Die für beide beste Lösung, zwei Jahre Haft, können sie nur erreichen, wenn sie sich darauf einigen und verlassen können, dass auch der andere schweigt. Auch im richtigen Leben stehen Menschen regelmäßig vor der Frage, ob sie durch Kooperation ein Risiko eingehen sollen.

Nowak arbeitet in seinem Buch mehrere Strategien heraus, wie Menschen mehr Kooperation erreichen. Das klassische Prinzip ist das der Gegenseitigkeit oder der direkten Reprozität: "Wie du mir, so ich dir." Hilft einer seinem Freund, einen Baum zu pflanzen, bringt dieser ihm das nächste Mal Humuserde vom Gartencenter mit. Wenn du meinen Rücken kratzt, denkt sich der Schimpanse, kratze ich deinen.

In größeren Gruppen gibt es indes ein Problem: Man trifft viele Personen oft nicht wieder. Warum also helfen? Weil es Zugang zu einer kostbaren Ressource schafft: Reputation. Wer anderen hilft, verschafft sich einen guten Ruf - und erhöht damit die Chance, dass künftig andere mit ihm zusammenarbeiten. Wer als Egoist verschrien ist, läuft Gefahr, Sanktionen zu provozieren. So funktioniert etwa das Bewertungssystem beim Online-Auktionshaus Ebay. So kommt Nowak zu dem Schluss, dass langfristig Großzügigkeit, Nachsicht und Freundlichkeit die beste Strategie sind, um von Kooperation auch zu profitieren.

Nächstenliebe ist demnach nicht nur lobenswert, sondern auch rational. Besonders ausgeprägt ist dieses Verhalten beim Menschen. Nur er hat ein effizientes Mittel entwickelt, sich einen Ruf zu erwerben - die Sprache. Mit ihr kann sich die Nachricht, jemand sei besonders hilfsbereit, rasch verbreiten.

Ein dritter Kooperationsbeschleuniger ist räumliche Nähe. Es zahlt sich aus, sich mit den Nachbarn gut zu verstehen. Und wer in einem kooperativen Umfeld lebt, dessen Überlebenschancen steigen, weil seine Gruppe im Wettbewerb mit anderen eher besteht. Das bringt Nowak auf den vierten Mechanismus: Gruppenselektion. Menschen können auch in Gruppen kooperieren, die weder durch Nähe noch Verwandtschaft geprägt sind, und in denen die möglichen Vorteile von Gegenseitigkeit und Reputation die Nachteile kaum aufwiegen.

Das Ziel ist dann, den Erfolg der Gruppe zu sichern, von dem die Mitglieder später einen Vorteil haben. Ein extremes Beispiel ist das Verhalten von Soldaten im Krieg. Aber es zeigt schon, dass eine mögliche Kooperation großen Aufwand erfordert, den Zusammenhalt der Gruppe zu betonen und den Einzelnen davon abzuhalten, seinen Vorteil doch allein zu suchen.

Aufregung in der Fachwelt

Mit diesen Thesen hat Nowak in der Fachwelt für Aufregung gesorgt. Während Kooperation aufgrund von Gegenseitigkeit, der Macht des guten Rufes und Nachbarschaftshilfe unter Experten als Evolutionsfaktor kaum bezweifelt wird,

gilt Gruppenselektion als überwundene Theorie des frühen 20. Jahrhunderts. Wer erklären will, wie Gruppen überleben, oder fragt, wie es zu Verhalten kommt, das dem Gruppen- oder Artwohl zu nutzen scheint, könne das immer mit der natürlichen Auslese von Individuen erklären, betonen Nowaks Kritiker. Der Vermehrungserfolg lasse sich schließlich danach bemessen, wie oft Erbanlagen an die nächste Generation weitergegeben würden. Und da sei es die beste Strategie, sich und Verwandten zu helfen.

Die Fähigkeit, Nachwuchs zu hinterlassen, nennen die Evolutionsforscher Fitness. Und meist wird diese genetische Gesamtfitness mit der Verwandtenselektion in einem Atemzug genannt. Der britische Evolutionsbiologe John Burdon Haldane soll es 1955 in einem Pub einmal so formuliert haben: "Ich würde mein Leben für zwei Brüder oder acht Cousins geben."

In diesen Verwandten nämlich würden im Mittel genauso viele von Haldanes Genen überleben wie in dem Forscher selbst. Allerdings hat er später eingeräumt, zweimal Menschen vor dem Ertrinken gerettet zu haben. Er hätte aber vor der Entscheidung, ins Wasser zu springen, keine Zeit gehabt, noch zu berechnen, wie er mit ihnen verwandt sei.

Nowak hält das Konzept der Vetternwirtschaft zwar für einen wichtigen Mechanismus sozialer Evolution, aber nicht für den einzigen. Kooperative Gruppen hätten immer bessere Chancen im Wettbewerb, egal ob und wie verwandt ihre Mitglieder sind. Ihr Verhalten sei mathematisch auch viel eleganter zu formulieren, während ihm der Ansatz der einst auch Sippenselektion genannten Theorie ohne "formale Schönheit und Einfachheit" erscheint. In Nowaks Fach ist die Schönheit des Arguments tatsächlich oft ein Maß seines Werts.

Der Biomathematiker steht mit seiner Ansicht nicht allein. Auch der Nestor der Soziobiologie, Edward Wilson, hegt seit Jahren Zweifel an der Verwandtenselektion, obwohl er diese Anfang der siebziger Jahre zu popularisieren half. Wilson mangelt es vor allem an empirischen Beweisen. Er hat mit der Harvard-Mathematikerin Corina Tarnita und Nowak im August 2010 im Wissenschaftsjournal Nature deshalb einen Aufsatz veröffentlicht, in dem sie das bisherige Standardmodell für falsch erklären.

So ließe sich zum Beispiel auch ohne Verwandtschaft erklären, wie Ameisenstaaten entstehen, bei denen alle Arbeiterinnen auf Nachwuchs verzichten. Demnach muss die Gründerpopulation noch fruchtbarer Tiere nicht miteinander verwandt sein, solange nur einige zufällig ein Gen haben, das sie in der Nähe eines Nests verweilen und für weitere Generationen sorgen lässt. Diese Gruppe kann weniger solidarische Ameisenvölker ausstechen und sich durch Kooperation stärker vermehren. Die Verwandtschaft ihrer Mitglieder wäre dann Folge, nicht Ursache des Sozialverhaltens.

Nowaks Publikation löste unter vielen Naturwissenschaftlern Entsetzen aus. Erst vor wenigen Wochen publizierten die Gegner einen Artikel in Nature, der die Veröffentlichung scharf angriff - und von 137 Forschern unterzeichnet wurde. Sie werfen Nowak und seinen Mitstreitern vor, die Fachliteratur nicht genau zu kennen, das Prinzip der Verwandtenselektion missverstanden zu haben und mathematisch viel zu restriktive Annahmen zu machen, was die evolutionäre Gesamtfitness eines Organismus ausmache.

Der Biologe Richard Dawkins, der 1976 den Klassiker Das egoistische Gen veröffentlicht hat, ätzt: "Ich habe noch niemanden außer Nowak und Wilson getroffen, der das ernst nimmt."

Unabhängig davon, wie der Gelehrtenstreit ausgehen mag, kann sich das Ergebnis kooperativer Evolution sehen lassen. Nach Nowak ist sie sogar die Urformel aller lebendigen Schöpfung. So interpretiert er die Entstehung des Lebens metaphorisch im Lichte des Teamgeists: Die ersten molekularen Grundbausteine des Lebens hatten offenbar Eigenschaften, die ihnen erlaubten, miteinander zu reagieren und sich in ihrem Umfeld zu behaupten.

Mikroben wiederum konnten als Gemeinschaft Leistungen erbringen, die Einzelnen verschlossenen blieben. Und sie formten als Kollektiv erste Vielzeller, aus denen Pflanzen und Tiere entstanden, einschließlich Homo sapiens.

Doch kooperative Gemeinschaften laufen immer Gefahr, von Egoisten unterwandert zu werden - das illustriert der Krebs. Der Körper ist eine hochdifferenzierte Zellgemeinschaft, in der bisweilen mutierte Zellen auf eigene Rechnung wuchern - bis zum Tod des Wirts. Deshalb ist Nowaks frohe Botschaft getrübt. Er zeigt in seinen Simulationen zwar, dass Nächstenliebe langfristig am erfolgreichsten ist. "Wir können nicht erwarten, dass Kooperation ewig währt. Aber wir können zumindest sicherstellen, dass Kooperation über längere Perioden Bestand hat - und nur gelegentlich scheitert."

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