Süddeutsche Zeitung

Verhaltensbiologie:Tierische Draufgänger

Mutige Meisen und schüchterne Stichlinge - was lange nach Spinnereien einiger Biologen klang, bestätigt sich: Auch bei Tieren gibt es erstaunliche Charakterunterschiede.

Katrin Blawat

Auf den ersten Blick gibt es hier nicht viel zu entdecken. Ein kahler Raum, wenige Quadratmeter groß, und die Einrichtung besteht einzig aus fünf Holzpflöcken, die an Kleiderständer erinnern. Die Kohlmeise findet es dennoch aufregend. Sobald sich die Käfigtür öffnet, flattert sie in dem Raum herum, landet kurz auf einem der Pflöcke und ist schon wieder unterwegs zum nächsten. Nie bleibt sie lange irgendwo sitzen.

Nach zwei Minuten schaltet Jakob Müller die Kamera ab, für ihn ist die Sache klar. Die Meise, die er gerade beim Erkunden des Raumes beobachtet hat, gehört zu den Neugierigen, den Draufgängern. Manche ihrer Artgenossen bewegen sich in dem unbekannten Raum überhaupt nicht von der Stelle - das sind die schüchternen.

"Kohlmeisen haben einen Charakter, ähnlich wie wir Menschen", sagt Müller, Verhaltensökologe am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen. Immer deutlicher erkennen Biologen, was sich zunächst erstaunlich anhört: Auch Tiere wie Vögel und Fische zeigen eine individuelle Persönlichkeit.

Vor drei Jahren entdeckten die Max-Planck-Forscher, dass für die Neugier der Meisen die Variante eines Gens zuständig ist, das eine wichtige Rolle im Dopamin-Stoffwechsel spielt. Vom gleichen Gen weiß man, dass es auch die Persönlichkeit des Menschen beeinflusst. Nun haben Müller und seine Kollegen vier verschiedene Meisenpopulationen aus den Niederlanden, Belgien und England untersucht - und dabei entdeckt, dass die Genvariante nur bei den Vögeln aus einer der niederländischen Gruppen zu einer ausgeprägten Neugier führt (Molecular Ecology, Bd.19, S.832, 2010). "Wir verstehen die Unterschiede zwischen den Populationen noch nicht", sagt Studienleiter Bart Kempenaers.

Die aktuelle Studie zeigt, dass die genetischen Grundlagen der Tier-Persönlichkeiten noch weitgehend unbekanntes Terrain sind. Dass es aber bei Tieren, wie auch bei Menschen, deutliche Charakterunterschiede zwischen Individuen gibt, dafür finden Biologen immer überzeugendere Belege. Bei Stichlingen etwa lassen sich ängstliche Artgenossen von mutigen unterscheiden, bei Braunbären gibt es geduldige Typen und aufbrausende, und manche Tüpfelhyäne ist deutlich weniger verträglich, dafür aber umso durchsetzungsfähiger als ihre Artgenossen.

"Mit Persönlichkeit meinen wir, dass ein Individuum ein Verhalten immer wieder und in jeder Situation zeigt", sagt Müller. So wird beispielsweise ein wenige Tage alter Stichling, der sich ohne zu zögern einer Hecht-Attrappe nähert, als ausgewachsener Fisch vermutlich versuchen, Artgenossen das Revier streitig zu machen. Wer schon in früher Jugend lieber den Kampf sucht statt zu flüchten, aus dem wird auch später kein friedvoller Nachbar. Forscher können sogar Prognosen zu der Persönlichkeit eines Tieres abgeben: Aggressive Meisen etwa sind meist auch aktiv und entschlussfreudig. Die Kühnheit lässt sich physiologisch messen. Der Testosteronspiegel im Blut ist höher, der Gehalt des Botenstoffes Serotonin niedriger.

Vor wenigen Jahren noch galt die Persönlichkeitsforschung im Tierreich als Spinnerei. Statt auf seriösen Studien fußten die wenigen Ergebnisse auf Gelegenheitsbeobachtungen. Und fiel einem Forscher etwa die ausgeprägte Neugier eines Tieres auf, hielt man dies für einen willkürlichen Temperamentsausbruch, der nicht weiter erwähnenswert war. Die Verhaltensbiologen fürchteten den Spott der restlichen Wissenschaftsgemeinde, wenn sie über draufgängerische Vögel referierten.

Solche Vorbehalte sind Sam Gosling fremd. Der Psychologe leitet in Texas ein Labor für Tierpersönlichkeit, und für ihn sind die Parallelen zwischen tierischer und menschlicher Persönlichkeit offensichtlich. "Ein schüchterner Mensch verzieht sich auf einer Party in eine Ecke", sagt Gosling. "Ein Tintenfisch versteckt sich in seiner Tintenwolke."

Noch rätseln die Forscher, ob hinter den Persönlichkeitsunterschieden mehr stecken könnte als nur eine Laune der Natur. Möglicherweise steigert es die Überlebenschancen einer Population, wenn diese sowohl mutige als auch schüchterne Individuen enthält, vermutet Franjo Weissing von der Universität Groningen. Er entwickelte ein Computermodell, in dem sich die mutigen Tiere früh fortpflanzen, aber auch häufiger an Verletzungen sterben als schüchterne Artgenossen. Diese müssen mit der Fortpflanzung zwar länger warten. Gleichzeitig gehen sie aber auch weniger Risiken ein, was ihre Lebensdauer erhöht. Die Mischung aus Mut und Schüchternheit führt dazu, dass jeder irgendwann zum Zug kommt.

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SZ vom 11.02.2010/beu
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