Verhakte Erdplatten:Chile droht weiteres Erdbeben

Nach einem Erdbeben herrscht meist für eine Weile Ruhe in der betroffenen Region. Für Chile, wo vor einem Jahr die Erde schwankte, gilt das offenbar nicht, warnen italienische Geo-Forscher.

Christopher Schrader

Es war ein feierliches Ereignis, wie Chile sie zurzeit häufig erlebt. Ende Oktober 2010 war Staatspräsident Sebastian Piñera in die Hafenstadt Concepción gekommen, um die Juan-Pablo-II-Brücke wiederzueröffnen.

Erdbeben der Stärke 8,8 in Chile

Am 27. Februar 2010 kam es in Chile zu einem Erdbeben der Stärke 8,8. Schon in naher Zukunft könnte sich dort eine solche Naturkatastrophe wiederholen.

(Foto: dpa)

Im harten Licht des Morgens rollten die ersten Autos über den Biobio-Fluss. Die Straßenverbindung zwischen San Pedro und Concepción, benannt nach dem ehemaligen Papst, war acht Monate zuvor beschädigt worden - so wie 210 andere wichtige Brücken. Zum einjährigen Jahrestag des Erdbebens der Stärke 8,8, also am 27. Februar 2011, sollte weit mehr als die Hälfte der zerstörten Infrastruktur wiederaufgebaut sein, kündigte Piñera an.

Zu jenem Zeitpunkt lag in London bereits seit drei Monaten ein Manuskript, das Fragezeichen hinter die Pläne setzt; am vergangenen Sonntag ist diese Studie im Fachblatt Nature Geoscience (online) wie berichtet erschienen. Die Erdbebengefahr in der Region Concepción hat sich durch die Erschütterungen vom Februar 2010 kaum verringert, vielleicht sogar erhöht, sagt ein Wissenschaftlerteam um Stefano Lorito vom Nationalinstitut für Geophysik und Vulkanologie in Rom.

Die Forscher haben Daten von GPS-Stationen, Satelliten und den damals ausgelösten Tsunamiwellen ausgewertet und daraus zurückgerechnet, wo sich das Erdreich wie weit verschoben hat. Die stärksten Bewegungen sind demnach am nördlichen und südlichen Rand der Erdbebenzone aufgetreten. Aber im Zentrum, westlich des Epizentrums und der Stadt Concepción blieben die wandernden Erdplatten verhakt.

Chile gehört zu den am meisten von Beben bedrohten Ländern, weil sich vor seiner langen Küste die sogenannte Nazca-Platte nach Osten unter die südamerikanische schiebt. Sieben Zentimeter Bewegung pro Jahr müssen die Erdschichten dort verkraften - die Spannung entlädt sich immer wieder durch Erdbeben. Vor Concepción ist das zum letzten Mal 1835 passiert, als Charles Darwin auf seiner Weltreise mit der HMS Beagle dort gerade vorbeikam. Seither wuchs die Spannung.

Die Abschnitte nördlich und südlich haben sich 1928 und 1960 entladen, aber vor der Mündung des Biobio klaffte eine sogenannte seismische Lücke. "Diese Darwin-Lücke ist nicht geschlossen, und der Teil der Erdspalte, der dort noch verhakt ist, steht jetzt unter größerem Druck als vorher", sagt Lorito. "Dieser Stress könnte dazu beitragen, ein weiteres schweres Erdbeben auszulösen."

Wann das allerdings passiert, kann der Italiener nicht sagen. Auch auf die Frage, ob er seinen Bruder samt Familie zurzeit von einer Chilereise abhalten würde, antwortet er ausweichend: "Ich könnte ihn nicht davor warnen." Wie alle seriösen Erdbebenforscher hat Lorito ein Problem mit konkreten Prognosen.

In diesem Punkt immerhin stimmt Onno Oncken vom Geoforschungszentrum Potsdam seinem Kollegen in Rom zu: "Was bei Erdbeben geschieht, ist so kompliziert, das entzieht sich unserem intuitiven Verständnis." Ansonsten aber sind die beiden zurzeit Kontrahenten, denn Oncken hat mit zwei Kollegen im vergangenen September in Nature geschrieben, das Februar-Beben habe die seismische Lücke vor Concepción geschlossen.

Oncken hatte sich dabei auf andere Rekonstruktionen der Erdverschiebung gestützt, die mit vorläufigen und weniger Daten auskamen als Loritos Analyse. Diese sei aber auch nicht das letzte Wort, so der deutsche Forscher: Auf der großen Geologentagung in San Francisco hätten vor kurzem etliche Gruppen verschiedene Berechnungen zu dem Ereigenis vorgestellt. Die halbe Fachwelt hat offenbar auf ein Beben in der Darwin-Lücke gewartet; die Region war außergewöhnlich dicht mit Messgeräten ausgestattet. Deren Daten müssen ausführlich analysiert und weiter beobachtet werden. Spannungen können sich nach dem großen Beben auch relativ friedlich abbauen.

Trotzdem erwartet auch Oncken noch einen größeren Stoß. "Nachbeben können so stark sein, dass ihre Magnitude bis zu einer Einheit unter der des Hauptbebens liegt", sagt er, "in diesem Fall also deutlich über sieben." Ein ähnliches Ereignis hält Stefano Lorito für möglich. Wodurch genau es ausgelöst wird, ist für die Wissenschaftler spannend. Den Chilenen, besonders wenn sie gerade über die neue Brücke fahren sollten, wäre die genaue Ursache aber vermutlich egal.

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