Süddeutsche Zeitung

USA:Invasion der Karpfen

Das Weiße Haus ist alarmiert: Große asiatische Karpfen erobern die Gewässer der USA. Sie verdrängen nicht nur einheimische Fische, sondern hechten aus dem Wasser und verletzen Menschen.

H. Breuer

Ein Fisch beschäftigt das Weiße Haus, die US-Armee, mehrere Gouverneure amerikanischer Bundesstaaten und das Verfassungsgericht in Washington. Es geht um asiatische Karpfen, importiert in den 1970er Jahren von Fischfarmern im Süden der USA. Die Tiere, Marmor- und Silberkarpfen, sollten Zuchtteiche von Algen befreien, indem sie diese fraßen. Die Fische erfüllten die Aufgabe vorbildlich. Doch in den 1990er Jahren entkamen einige Exemplare wahrscheinlich durch Überschwemmungen aus den Aquakulturen in den Mississippi. Dort vermehrten sie sich rasant und begannen, nach Norden zu schwimmen.

Damit nahm eine schleichende Katastrophe ihren Anfang. Die Fische können bis 1,2 Meter lang und 40 Kilo schwer werden. Täglich verzehren sie gut 40 Prozent ihres Gewichts an Plankton, Nahrung, die einheimischen Fischen verlorengeht. Weil sie dort keine natürlichen Feinde haben, sind die Karpfen in vielen Flüssen der USA längst zur dominanten Art geworden. Im Illinois River etwa machen sie nach Gewicht bereits 90 Prozent der gesamten Fischpopulation aus. Zudem springen die leicht schreckhaften Fische häufig bis zu zwei Meter hoch aus dem Wasser, wenn sie Bootsmotoren hören. So haben sie bereits einige Bootspassagiere verletzt.

Inzwischen befinden sich die Eindringlinge an der Schwelle zu den Großen Seen, dem flächenmäßig größten Süßwassersystem der Erde. Im vergangenen November entdeckten Umweltbiologen wenige Kilometer vor dem Lake Michigan, dem Einfallstor zu den Großen Seen, in Wasserproben DNS der gefräßigen Karpfen und im Januar schließlich auch in der Mündung des Calumet-Flusses an der Südspitze des Sees. Naturschützer sehen das ökologische Gleichgewicht der Seen gefährdet. Sport- und Berufsfischer fürchten um ihre Fischgründe. Bootseigner sorgen sich, dass die aus dem Wasser schießenden Fische ihnen den Spaß verderben. Alle fordern, die Karpfeninvasion zu stoppen.

Aus anderen Ländern weiß man, dass ortsfremde Arten Ökosysteme völlig durcheinanderbringen können. In Australien etwa haben von Europäern eingeführte Kaninchen und Aga-Kröten die heimische Flora und Fauna neu geordnet. Die Antilleninsel Antigua importierte Ende des 19. Jahrhunderts Kleine Mungos, um eine Rattenplage zu bekämpfen. Stattdessen dezimierten die Tiere einheimische Vogel-, Frosch- und Schlangenarten drastisch. Die Liste ließe sich endlos erweitern.

Unerwartet kommt der Karpfen-Alarm daher nicht. Bereits 2002 installierte das Ingenieurkorps der US-Armee in einem zum Lake Michigan führenden Kanal eine provisorische elektrische Barriere, der zwei Jahre später eine permanente Sperre folgte. Doch das Abwehrsystem war offensichtlich nicht besonders effektiv, wie das nördlich dieser Sperre gefundene Karpfenerbgut belegt.

Inzwischen hat sich das Weiße Haus eingeschaltet. Anfang Februar erklärte Nancy Sutley, Vorsitzende eines Ausschusses für Fragen des Umweltschutzes, die US-Regierung werde 78,5 Millionen Dollar bereitstellen, um die Ausbreitung der Karpfen einzudämmen. Von dem Geld soll unter anderem eine weitere Unterwasserschranke gebaut werden. Die US-Naturschutzbehörde Fish and Wildlife Service plant außerdem, ein Gift zu entwickeln, das nur asiatische Karpfen tötet. Außerdem sollen Fallen gebaut werden, die Fische mittels Sexualhormonen anlocken.

Die wohl beste Möglichkeit wäre jedoch, alle Schleusen in dem Fluss- und Kanalsystem, das den Lake Michigan mit dem Mississippi verbindet, dauerhaft zu schließen. "Auf diesem Wege würde man auch andere Eindringlinge aus den Seen fernhalten - und alle 180 ortsfremde Arten, die bereits in den Seen leben, daran hindern, in die Flüsse Richtung Süden zu wandern", sagte David Lodge, Experte für invasive Arten an der Notre Dame University in Indiana, dem Wissenschaftsjournal Science.

Die Trennung der beiden Ökosysteme hat allerdings auch Gegner. Von und zu den Großen Seen werden alljährlich Millionen Tonnen Güter wie Eisenerz, Kohle, Zement oder Getreide verschifft. Würden die Schleusen geschlossen, müssten Schiffe über Sperren hinweggehievt oder die Ladung auf Straßen und Schienen verlagert werden.

Der Widerstand der Lobbygruppen der Frachtschifffahrt gegen die Schließung der Schleusen wird von der Regierung des US-Bundesstaates Illinois und der Stadt Chicago unterstützt. Beide profitieren seit mehr als 150 Jahren vom Güterverkehr auf den Wasserstraßen. Im Dezember brachte der US-Bundesstaat Michigan eine Klage gegen Illinois vor dem Verfassungsgericht der Vereinigten Staaten ein, um die Schließung der Schleusen zu erzwingen. Die Richter nahmen die Klage jedoch nicht an.

Damit ist der Machtkampf noch nicht entschieden. Derzeit erwägt das für die Schleusen zuständige Ingenieurkorps der US-Armee, diese zwar nicht dauerhaft, aber für einige Tage in der Woche zu schließen. Eine Entscheidung soll noch diesen Monat fallen und im April umgesetzt werden. "Im Frühjahr werden die Fische aktiver, wir müssen handeln", sagt der für den Kreis Chicago zuständige Vincent Quarles vom Ingenieurkorps der US-Armee.

Nicht jeder betrachtet die Karpfen als Bedrohung. In China werden die Tiere sehr geschätzt, und zwar nicht nur für den Speiseplan. Da in vielen, von Düngemitteln, Insektiziden und Gülle verschmutzten Flüssen und Seen Chinas Algen wuchern, setzen die Behörden die robusten Karpfen ein, um die Algenpest unter Kontrolle zu bekommen.

Der Tai Hu, Chinas drittgrößter Binnensee in der Provinz Jiangsu, ist zum Beispiel extrem mit Nitraten und Stickstoffen belastet. 2007 war er weitflächig von Algen bedeckt, was die Trinkwasserversorgung der an seinen Ufern gelegenen Millionenstadt Wuxi gefährdete. Im Rahmen der ökologischen Sanierung des Sees haben chinesische Behörden jetzt angekündigt, bald mehr als 20 Millionen Karpfen in dem Gewässer auszusetzen.

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SZ vom 09.03.2010/beu
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