Politische Psychologie:„Frauen haben einen Bonus“

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Mann oder Frau, orange oder schwarz, Donald Trump oder Kamala Harris: Wie wirken sich Geschlecht und Haut- oder Haarfarbe auf die Chancen aus, die Wahl zu gewinnen. (Foto: ALLISON BAILEY/AFP)

Hat Kamala Harris als schwarze Frau einen Nachteil gegen den weißen Mann Donald Trump? Wäre naheliegend – aber Experimente lassen etwas anderes vermuten. Ein Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Sanne van Oosten.

Interview von Sebastian Herrmann

Der Wahlkampf um die Präsidentschaft in den USA wird von vielen Beobachtern auch als Wettstreit der Identitäten beschrieben. Da steht ein alter, weißer Mann auf der einen, eine deutlich jüngere schwarze Frau auf der anderen Seite. In der Debatte geraten Inhalte dabei häufig ins Abseits. Stattdessen geht es dann darum, wie Wähler sich angesichts der Hautfarbe, der Herkunft und des Geschlechts der Kandidaten entscheiden werden. Frauen, Schwarze oder Angehörige ethnischer Minderheiten hätten es deutlich schwerer, wenn sie sich um ein politisches Amt bewerben, lautet die dominante Ansicht. Aber stimmt das wirklich? Die Politikwissenschaftlerin Sanne van Oosten von der Universität Oxford hat dazu kürzlich eine Meta-Analyse im Fachjournal Acta Politica veröffentlicht, für die sie Experimente und Studien seit 2012 analysiert hat, die überwiegend aus den USA stammen. Ihre Ergebnisse überraschen, weil sie der gängigen Erzählung widersprechen.

SZ: Stellen wir uns kurz vor, dass Kamala Harris im November die Wahl gegen Donald Trump verliert. Sehr viele Kommentatoren würden argumentieren, dass sie als schwarze Frau wegen des Sexismus und Rassismus in der US-Gesellschaft ohnehin nie eine Chance gehabt hätte. Was sagt die Datenlage zu dieser Behauptung?

Sanne van Oosten: Im Falle einer Niederlage würden sicher viele so argumentieren. Was ich untersucht habe, ist der erste Eindruck, den Wähler von einem Politiker oder einer Politikerin mit Migrationshintergrund haben. Und dieser erste Eindruck ist tatsächlich sehr positiv. Frauen haben im Vergleich zu Männern sogar einen Bonus. In Experimenten ist die Wahrscheinlichkeit signifikant höher, dass Wähler für eine Frau stimmen als für einen Mann.

Wie sieht es mit der Hautfarbe aus?

Im Durchschnitt ist es in den USA genauso wahrscheinlich, dass Leute für einen schwarzen Amerikaner stimmen wie für einen weißen. Auch das bezieht sich auf den ersten Eindruck.

Wie funktionieren diese Kandidaten-Experimente, in denen dieser erste Eindruck erfasst wird?

Es ist eine Umfragetechnik, bei der den Befragten ein Politiker gezeigt wird. Dann sagt man: „Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie für diese Person stimmen?“ Zusätzlich werden den Teilnehmern weitere Informationen über die Politiker gegeben: seine politischen Positionen, seine Partei, ob er Kinder hat und vieles mehr. Ich habe für meine Analyse alle Studien aus der ganzen Welt dazu genommen, wobei fast 70 Prozent aus den USA stammen. Insgesamt waren das mehr als 300 000 Politikerprofile. Dann habe ich alle Daten aggregiert, neu analysiert und alles in ein großes Modell zusammengeführt. Das ist eine wirklich starke Technik. Das habe ich sowohl für Herkunft beziehungsweise Hautfarbe als auch für Geschlecht gemacht. Am Ende habe ich meine Ergebnisse für den Einfluss des Geschlechts aber nicht publiziert, weil ein anderer Wissenschaftler schneller war.

Oh, wie ärgerlich!

Im Gegenteil, ich war sehr froh, dass mir bei der Geschlechterfrage jemand zuvorgekommen ist.

Warum das denn?

Ich habe meinen eigenen Ergebnissen erst selbst nicht getraut. Dieser Berg an Daten legte nahe, dass Wähler deutlich häufiger für Politikerinnen stimmen und genauso wahrscheinlich auch für Politiker mit Migrationshintergrund. Als ich all diese Daten präsentierte, haben mir viele Leute nicht geglaubt und ich war auch skeptisch.

Das kann ich nachvollziehen.

Also habe ich meine Analysen noch einmal durchlaufen lassen und bin immer wieder zum gleichen Ergebnis gekommen. Ich hatte alles richtig gemacht. Und dann veröffentlichten diese anderen Forscher die exakt gleichen Ergebnisse. Deshalb war ich darüber sehr glücklich.

Die Politikwissenschaftlerin Sanne van Oosten forscht am Centre on Migration, Policy and Society an der britischen Universität Oxford und an der Universität Amsterdam. (Foto: John Cairns/John Cairns)

Die Ergebnisse Ihrer Meta-Analyse stehen im starken Gegensatz zu unserer öffentlichen Debatte. Wir erzählen uns immer wieder eine andere Geschichte.

Die Leute verstehen Statistiken oft falsch. Ich präsentiere durchschnittliche Reaktionen der Menschen. Es kann der Fall sein, dass die durchschnittliche Reaktion auf Frauen positiv ist, es aber zugleich eine winzige, extrem sexistische oder rassistische Minderheit gibt, die laut ist und stark wahrgenommen wird. Das bedeutet nur nicht, dass die Mehrheit der Menschen so denkt. Diesen Schluss daraus zu ziehen, wäre ein Missverständnis.

Welche Konsequenzen hat dieses Missverständnis?

Zum Beispiel, dass Partei-Entscheidungsträger strategisch Frauen oder Schwarze diskriminieren und sich nicht trauen, sie als Kandidaten aufzustellen. Einfach, weil sie glauben, dass diese bei den Wählern geringere Chancen haben – was zumindest im Durchschnitt eben nicht zutrifft.

Warum ist dann die Geschichte so dominant, dass unsere Gesellschaften immer rassistischer werden?

Das liegt zum einen an der bereits genannten kleinen Minderheit, die laut und rassistisch auftritt. Auf der anderen Seite gibt es den Negativitätsbias: Schlechte Nachrichten verkaufen sich besser und werden mehr beachtet.

Ihre Studie zeigt auch, dass sich in den USA schwarze Wähler bevorzugt für schwarze Kandidaten entscheiden. Andere Identitätsgruppen wählen auch eher Kandidaten, mit denen sie ihre Herkunft teilen. Nur weiße Amerikaner zeigen dieses Muster nicht. Wäre es andersherum, würde das vermutlich als Beleg für Rassismus gelten?

Wahrscheinlich. Das ist definitiv eine Schlussfolgerung, die man ziehen könnte. Auf der anderen Seite denke ich, dass es einen Unterschied macht, ob die favorisierte Gruppe historisch gesehen eine Minderheit oder die dominierende Gruppe ist.

Weiße US-Amerikaner werden oft als die rassistischste Wählergruppe bezeichnet. Wenn man sich solche Daten anschaut, könnte man argumentieren, dass das Gegenteil der Fall ist.

Ja, zumindest in Bezug auf die Präferenz für die eigene Gruppe, die sie in den USA nicht systematisch bevorzugen.

Haben Sie auch vergleichbare Daten aus Europa ausgewertet?

Ich habe ähnliche Fragen für die Niederlande, Deutschland und Frankreich untersucht. Ich konnte keine signifikanten Präferenzen für Politikerinnen finden. Es gab einfach keinen geschlechterspezifischen Effekt, die Menschen bevorzugen Frauen genauso wie Männer.

Das wäre doch das Ziel, dass Inhalte statt Identitätsmerkmale zählen.

Ja, genau. In den Niederlanden, Deutschland und Frankreich ist das Bild in dieser Hinsicht sehr ähnlich. Was den Migrationshintergrund angeht, habe ich auch keine Diskriminierung gefunden. Ich habe die häufigsten Migrationshintergründe untersucht und für keinen eine Diskriminierung gefunden. Anders als in den USA bevorzugen in Europa Menschen mit Migrationshintergrund signifikant Politiker ohne Migrationshintergrund.

Woran liegt das?

Das könnte daran liegen, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Europa relativ neu sind. Erst in den vergangenen 50 Jahren sind viele in die Niederlande, nach Deutschland und Frankreich gekommen. Ein Weg, sich positiver zu fühlen, ist, die dominierende Fremdgruppe zu bevorzugen. Aber es ist schwer, das genau zu sagen. Religion spielt in Europa allerdings eine wichtige Rolle: In den Niederlanden legten die Daten nahe, dass Muslime eher für Muslime stimmen. In Deutschland war dieser Effekt moderat und in Frankreich nicht vorhanden.

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Und wie sehen die Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber muslimischen Kandidaten aus?

Was ich auch in Experimenten gesehen habe: dass es in den Niederlanden, Deutschland und Frankreich eine sehr starke negative Voreingenommenheit gegenüber muslimischen Politikern gibt. Vielleicht ist es gesellschaftlich akzeptierter, jemanden aufgrund seiner Religion statt seiner Hautfarbe zu beurteilen. Aber da spekuliere ich.

Kehren wir noch mal in die USA zurück. Die Quintessenz Ihrer Meta-Analyse ist also, dass Kamala Harris aufgrund ihrer Identität einen Vorteil hat?

Ja, das würde ich definitiv so sagen. Es könnte aber auch in gewisser Weise ein Nachteil sein. Es gibt viel Literatur dazu, dass im Laufe einer Kampagne negative Stereotype über Frauen und Schwarze mobilisiert und aktiviert werden können, was womöglich den positiven ersten Eindruck verdrängt. Es könnte also sein, dass latenter Rassismus oder versteckter Sexismus, der zu Beginn nicht zutage tritt, im Verlauf der Kampagne doch an die Oberfläche kommt.

Man könnte aber argumentieren, dass negative Kampagnen und Stereotype – mit Grenzen natürlich – schon immer Gegenstand der Wahlkämpfe waren. Das macht jeder Politiker. Es gibt auch viele negative Stereotype über weiße Männer.

Richtig, ja.

Würden Sie also sagen, dass wir als Gesellschaften in Bezug auf Rassismus und Sexismus viel fortschrittlicher und besser sind, als wir uns selbst erzählen?

Ich glaube, das sind wir tatsächlich. Und ich denke, im Moment passiert viel und es ändert sich viel. Einerseits könnte es sein, dass wir als Gesellschaft tatsächlich weniger rassistisch und sexistisch werden, weil wir uns dessen bewusster werden. Andererseits könnte es auch sein, dass wir uns dessen bewusster werden und deshalb lernen, unseren Rassismus und Sexismus besser zu verstecken. Das ist eine empirische Frage, der wir Forscher etwas näher auf den Grund gehen müssen.

Wird Kamala Harris die Wahl gewinnen?

Niemand weiß das wirklich. Und Umfragen sind extrem schwierig, besonders in den USA, wo es sehr stark auf die Wahlbeteiligung ankommt. Es hängt davon ab, wer zur Wahl gehen wird. Werden die Menschen, die vielleicht zum ersten Mal wählen, auch tatsächlich in diesen Umfragen erfasst? Es ist wirklich schwer, das vorherzusagen. Aber wenn ich mein Geld darauf setzen müsste, würde ich sagen, dass sie gewinnt.

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