US-Polizei:Kaputte Fenster, kaputte Moral?

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  • Gemäß der "Broken Windows Theorie" können Anzeichen der Unordnung wie Graffiti oder Mülll in einem Stadtviertel einige Bewohner zu schwereren Vergehen anstiften.
  • Auf Basis dieser Vermutung verfolgt die US-Polizei häufig selbst kleinste Verstöße mit großer Härte.
  • Die empirische Basis für die Theorie ist äußerst dünn. Neue Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass der Ansatz nicht funktioniert.

Von Sebastian Herrmann

Die Abwärtsspirale beginnt mit ein paar Schmierereien an der Wand. Etwas Müll auf dem Boden. Einem kaputten Fenster in der Fassade. Zeichen wie diese, so die Theorie, bringen die schlechten Seiten der Menschen zum Vorschein. Wenn die Umgebung signalisiert, dass sich hier niemand um Recht und Ordnung schert, eskaliert die Situation. Schmierereien werden mehr, Kriminalität nimmt zu, ganze Viertel gehen den Bach runter. Szenarien wie dieses sagt die Broken-Windows-Theorie voraus, die in den USA stark beachtet wird und der Nulltoleranzhaltung der Polizei in New York und anderen Städten als Rechtfertigung dient.

Doch es gibt ein Problem. Die empirische Überprüfung der Broken-Windows-Theorie weckt zumindest Zweifel, ob sich die Vorstellung von der negativen Sogwirkung zerbrochener Fenster halten lässt. Die Soziologen Marc Keuschnigg von der Universität München und Tobias Wolbring von der Universität Mannheim zeigen in mehreren Feldexperimenten, dass die Auswirkungen von Zeichen der Unordnung ausgerechnet in wohlsituierten Umgebungen ausgeprägter sind - also dort, wo Kriminalitätsbrennpunkte eben nicht zu erwarten sind.

Das Beispiel New York schien der Theorie recht zu geben

Auch scheint der Effekt begrenzt zu sein: Sobald es um ernste Vergehen wie Diebstahl geht, zeigen Schmierereien, Müll und andere Zeichen der Unordnung in der Umgebung keine Wirkung mehr ( Rationality and Society, Bd. 27, S. 96, 2015). Liegt also die Theorie der zerbrochenen Fenstern in Scherben auf dem Boden? "Mit unseren Ergebnissen lässt sich keine Nulltoleranzpolitik rechtfertigen", sagt Keuschnigg.

Die Broken-Windows-Theorie stand seit jeher auf wackeligen Beinen. Belege existierten viele Jahre keine. Trotzdem rechtfertigten der ehemalige New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani und sein Polizeichef Bill Bratton zu Beginn der 1990er-Jahre ihre Strategie zur Bekämpfung der Kriminalität in ihrer Stadt mit dieser These. Der Erfolg schien ihnen recht zu geben. Die Polizei verfolgte Sprayer, Schwarzfahrer, Betrunkene und Ruhestörer mit der gleichen Härte, mit der sie Gewaltverbrechern, Dieben und Drogendealern begegnete - und die Verbrechensraten der einst als Mord- und Raubhauptstadt der USA verrufenen Metropole sanken dramatisch. Seither gilt die Verbesserung der Sicherheitslage New Yorks als wichtigster Beleg für die Broken-Windows-Theorie. Kritiker führen hingegen an, dass die Zahl der Verbrechen schon vor Giulianis Zeit angefangen hatte zu sinken.

Waren die Wände vollgekritzelt, dann warfen die Passanten ihren Müll eher auf den Boden

Doch es klingt halt so einleuchtend, fast wie aus einem Erziehungsratgeber: Wer kleine Fehltritte durchgehen lässt, darf sich über große Entgleisungen nicht wundern. 1982 plädierten also die Sozial- und Politikwissenschaftler James Wilson und George Kelling in einem Essay dafür, das Erscheinungsbild von Stadtvierteln zu beachten. Zeichen der Verwahrlosung signalisierten kollektives Desinteresse an öffentlicher Ordnung und Gesetzestreue, argumentierten sie. Empirische Belege wiesen die Wissenschaftler keine vor - sie hatten sich vor allem von einem Experiment des Psychologen Philip Zimbardo inspirieren lassen. Dieser hatte beobachtet, wie lange es dauerte, bis ein offensichtlich aufgegebenes Auto von Passanten in zwei Stadtvierteln ausgeschlachtet wurde. Eine kleine Basis für eine große Schlussfolgerung.

"Deshalb wurde es sehr breit wahrgenommen, als 2008 Belege für die Broken-Windows-Theorie publiziert wurden", sagt Marc Keuschnigg. Der Sozialpsychologe Kees Keizer von der Universität Groningen veröffentlichte in jenem Jahr im Fachblatt Science eine Studie, in der er von der Macht der Schmierereien berichtete. Der Forscher hatte Flyer an die Lenker von Fahrräder gehängt und beobachtet, wie viele der Werbezettel auf den Boden geworfen wurden. Waren die Wände sauber, landeten weniger Flyer auf dem Gehweg; Graffiti, extra von Keizer angebracht, verleiteten hingegen dazu, die Straße mit den Zetteln zu vermüllen. Der Sprung von einem Fahrradstellplatz in Groningen zur Nulltoleranzpolitik der New Yorker Polizei war zwar noch immer gewaltig, doch das war der bis dahin beste empirische Beleg für die Broken-Windows-Theorie.

"Die Daten aus Science haben wir jetzt ganz gut reproduziert", sagt Keuschnigg. Die deutschen Soziologen wählten einen ähnlichen Versuchsaufbau wie der Groninger Psychologe Keizer. Sie belästigten die Bewohner von zwei Münchner Studentenwohnheimen mit Flyern, die sie an Fahrräder vor den Häusern hängen. War der Stellplatz mit etwas Müll präpariert, schmissen die Studenten die Flyer tatsächlich eher auf den Boden.

Unordnung provoziert weitere Unordnung, ganz im Sinne der Broken-Windows-Theorie - mit einem kleinen Haken. Die Soziologen hatten die Wohnheime so gewählt, dass sie sich hinsichtlich des Zusammenhalts der Bewohner unterschieden. In einem der Häuser werden neue Bewohner in einem zentralen Verfahren ausgelost; die aktuellen Mieter haben kein Mitspracherecht. Im anderen Heim werden Plätze hingegen wie in einer WG vergeben. Die Bewohner suchen die Bewerber aus, die am besten zur Gemeinschaft passen. Mit Erfolg: Die Studenten des Mitbestimmungswohnheims kochen häufiger gemeinsam und pflegen auch sonst einen engeren Umgang miteinander als die Studenten in dem eher anonymen Haus. Aber ausgerechnet die Bewohner der Gemeinschaft mit hohem Zusammenhalt ließen sich von Unordnung leichter anstecken und schmissen ihre Flyer einfach auf den Boden.

Den gleichen Effekt beobachteten Keuschnigg und Wolbring, als sie Münchner Stadtviertel verglichen. Dazu beachteten sie Faktoren wie die Wahlbeteiligung, den Anteil von Familien und Kriminalitätsraten. Dann beobachteten sie, wo sich Passanten leichter von schlechten Vorbildern verleiten ließen und ebenfalls bei Rot über eine Ampel gingen. So wie die Bewohner der Studentenwohnheime mit hohem Zusammenhalt ließen sich auch die Bewohner guter Quartiere eher von Fehlverhalten anstecken.

Wer allen Anfängen wehrt, der findet eben irgendwann kein Ende mehr

Doch welche Konsequenzen hat das für eine Nulltoleranzpolitik im Sinne der Broken-Windows-Theorie? Schließlich lässt sich schon über die Motivation der einzelnen Teilnehmer nur spekulieren, die gegen Regeln verstießen. Die Forscher wagen dennoch einen Schluss. "In einem guten Viertel ein Graffito zu entfernen, könnte einen positiven Effekt zeigen", sagt Keuschnigg, "aber in schlechten Nachbarschaften hat das wahrscheinlich keine Wirkung." Nulltoleranz in gehobener Umgebung? So werden Kriminalitätsbrennpunkte in Großstädten nicht befriedet.

Auch die befürchtete Kaskadenwirkung der Unordnung zeigt Grenzen. Ein Aspekt der Broken-Windows-Theorie ist, dass Unordnung andere Normverstöße begünstigt, dass Müll etwa auch zu Diebstahl animiert. Keuschnigg und Wolbring untersuchten diese These mit einem weiteren Experiment: Sie legten adressierte Kuverts vor Briefkästen, durch deren Sichtfenster Geldscheine zu sehen waren. Die Situation sollte wirken, als habe jemand die Umschläge fallen lassen, als er sie in den Briefkasten werfen wollte.

Wieder veränderten die Soziologen die Umgebung: Lehnten sie kaputte Fahrräder an den Briefkasten, nahmen mehr Passanten die Kuverts mit - wenn darin Fünf- oder Zehn-Euro-Scheine steckten. War ein 100-Euro-Schein im Kuvert, zeigte die verwahrloste Umgebung keine Wirkung, die Diebstahlrate blieb konstant. "Wenn es wirklich um etwas geht, lassen sich Menschen nicht von schwachen Umweltreizen leiten", sagt Keuschnigg. Die Broken-Windows-Theorie lässt sich wohl nur auf harmlose Normverletzungen anwenden. Echte Verbrechen verhindert Nulltoleranz gegen Bagatellvergehen nicht.

Fotos aus Ferguson
:Stadt im Aufruhr

Die Nacht, nach der Fergusons Polizeichef zurücktritt, ist unruhig. Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei. Dann fallen plötzlich Schüsse.

Den Opfern der Nulltoleranz helfen die methodischen Zweifel auch nicht mehr. Etwa dem 43-jährigen Eric Garner, der im Juli 2014 im Haltegriff eines New Yorker Polizisten starb. Sein mutmaßliches Vergehen: Garner verkaufte angeblich einzelne Zigaretten und hinterzog dadurch Steuern, was die Polizei unerbittlich verfolgte. Wer immer allen Anfängen wehrt, der findet irgendwann kein Ende mehr. Bei Protesten gegen Übergriffe der US-Polizei skandierten Demonstranten zuletzt immer wieder: "Broken windows, broken lives."

© SZ vom 12.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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