Untertagedeponie Herfa-Neurode:Das Giftgrab

Genug Arsen, um die gesamte Menschheit zu vergiften: Die Kehrseite der Konsumgesellschaft ist ihr Nachlass für die nächsten Jahrtausende - ein Besuch im größten Sondermüll-Lager der Welt.

Claudia Mayer

Durch den langen, dunklen Tunnel zu fahren, ist nicht gerade angenehm. Besonders, weil man weiß, dass kein Licht an seinem Ende auftauchen wird. Die Fahrstrecke liegt 600 Meter unter der Erde.

Die Luft hier unten im Kaliwerk Werra in Nordhessen schmeckt leicht salzig, die Temperatur beträgt 23 Grad. Wenn der Scheinwerferstrahl des offenen Jeeps die Wände streift, schimmern sie rot-orange. Adern aus magnesiumund kalihaltigen Salzen erinnern im Lichtspiel an Höhlenmalereien unserer Vorfahren, nur dass diese Salzformationen schon sehr viel länger existieren als der Mensch.

Es gibt sie seit 240 Millionen Jahren. Sie sind der Rest eines längst verdunsteten Urmeeres. Trotz der heimeligen Temperatur ist es unheimlich in den Stollen.

Das liegt an der absoluten Dunkelheit, die hereinbricht, sobald man die Scheinwerfer des Fahrzeugs ausschaltet - und an der Tatsache, dass man viele Millionen Tonnen Gestein über sich weiß. Sobald man die künstlich beleuchteten Regionen verlässt und einen der finsteren Seitengänge betritt, scheint es gar nicht unwahrscheinlich, dass sich irgendwo in dieser ewigen Nacht "Orks" verbergen könnten, jene schrecklichen Gestalten aus dem Film "Herr der Ringe".

Doch die Ork-Monster sind noch harmlos gegen das, was sich in diesem Unterwelt-Labyrinth wirklich befindet: Die Untertagedeponie Herfa-Neurode ist ein Grab für den Giftmüll unserer Konsumgesellschaft: knapp 18 Quadratkilometer, mehr als doppelt so groß wie das Stadtgebiet Venedigs, vollgepackt mit Fässern, Containern und großen, weißen Kunststoffpaketen. Die Lagerräume für den Giftmüll entstehen durch den Kali-Abbau.

Platz für alles, was von der Oberfläche verschwinden soll

Über 400 Quadratkilometer erstreckt sich die Unterwelt im Salz, mit 250 Kilometern sogenannter "Hauptfahrwege", Wegweisern, Kreuzungen, Pausenräumen, Werkstätten und eigener Feuerwehr. Kali ist Deutschlands meistexportierter Bodenschatz: 70 000 Tonnen Kalisalz werden im gesamten Bergwerk Werra pro Tag abgesprengt, über kilometerlange Bandanlagen nach oben transportiert und als Düngemittel oder Vorprodukt für die chemische Industrie in alle Welt geschickt.

In den stillgelegten Teilen des Bergwerks aber wird Sondermüll gelagert. Mehr als zwei Millionen Tonnen der "besonders überwachungsbedürftigen Abfälle" haben sich seit der Eröffnung 1972 in Herfa-Neurode angesammelt.

Die Untertagedeponie in Hessen war die erste weltweit und ist bis heute die größte. Man hat viel Platz für alles, was von der Oberfläche verschwinden soll: Zum Beispiel 220 000 Tonnen quecksilberhaltiger Abfälle liegen hier - meist in Form kontaminierter Böden; 127 000 Tonnen zyanidhaltiger Abfälle, die bei der Oberflächenbehandlung und Veredelung von Stahl angefallen sind; 690 000 Tonnen dioxin- und furanhaltigen Mülls, der beispielsweise bei der Hausmüllverbrennung übrig bleibt; 83 000 Tonnen arsenhaltiger Abfälle, die vor allem bei der Herstellung von Kupfer entstehen.

Arsen ist hochgiftig, allein 70 Milligramm genügen, um einen Menschen zu töten. Mit dem in Herfa-Neurode gelagerten Arsen könnte man die gesamte Menschheit vergiften.

Das Giftgrab

Aber es lagert gut versteckt - in einem wahren Labyrinth, in dem sich kaum der Überblick behalten lässt. In einem unterirdischen Raum stehen Metallregale, die bis zur Decke gefüllt sind mit gläsernen Schraubflaschen. Deren Inhalt glitzert manchmal neonpink, mal grellgrün oder himmelblau, oft ist er auch unauffällig grausandig.

Untertagedeponie Herfa-Neurode: Im unterirdischen Probenraum der Untertage-Deponie ist von jedem eingelagerten Abfall eine Probe hinterlegt. Das "Abfallkataster" und die zugehörigen Deklarationsanalysen werden unbefristet archiviert.

Im unterirdischen Probenraum der Untertage-Deponie ist von jedem eingelagerten Abfall eine Probe hinterlegt. Das "Abfallkataster" und die zugehörigen Deklarationsanalysen werden unbefristet archiviert.

(Foto: Foto: K+S Aktiengesellschaft)

Von jeder Ladung Giftmüll liegt eine Probe in diesem Raum, versehen mit Ankunftsdatum, Herkunft, dem vom Anlieferer deklarierten Inhalt, dem eigenen Laborbericht und der exakten Lage des Abfalls in der Deponie. Wie viel Arsen, Cyanide oder Dioxine genau hier lagern, kann jedoch nicht einmal Burkhard Dartsch sagen, der Betriebsleiter der Untertagedeponie.

Nicht jedes Gift kann nach Herfa-Neurode

Die spezifische Konzentration der Gifte variiere von Lieferung zu Lieferung, ja manchmal von Fass zu Fass. 400 Millionen Tonnen als "gefährlich" klassifizierte Abfälle fallen laut Bundesumweltministerium jährlich weltweit an, der größte Teil stammt aus Industrienationen wie Deutschland. So werden die riesigen unterirdischen Hohlräume in Herfa-Neurode immer voller.

Das liegt auch daran, dass trotz Abfalltrennung und Müllvermeidung immer mehr Menschen bedenkenlos Dinge kaufen, bei deren Produktion große Mengen an giftigem Abfall entstehen. Dazu gehören die bunten T-Shirts aus dem Schnäppchenmarkt genauso wie die teuren Laptops und die trendigen Handy-Modelle. Zudem landen allein in Deutschland jährlich 4000 Tonnen Medikamente ungenutzt im Hausmüll. Doch nicht jedes Gift kann in Herfa-Neurode deponiert werden.

Will man die Abfälle im Salz auf lange Zeiten lagern, dürfen sie weder flüssig sein noch ihr Volumen vergrößern, denn das könnte den Salzstock gefährden. Explosive, selbstentzündliche oder gar radioaktive Stoffe sind verboten, das Gesundheitsrisiko für die 54 Mitarbeiter, die in Herfa- Neurode arbeiten, wäre sonst zu groß. Der Müll darf keine Gase bilden, keine Krankheitserreger enthalten oder hervorbringen oder penetrant riechen. In Herfa- Neurode dürfen nur wasserlösliche Giftstoffe eingelagert werden.

"Man muss sich die Gefahr immer wieder vergegenwärtigen"

Da in einem Salzstock Flüssigkeiten verboten sind, können die Giftstoffe kaum mit Feuchtigkeit in Kontakt kommen. Auf einer Übertagedeponie wäre die Gefahr zu groß, dass Sickerwasser die Gifte ins Grundwasser spült. Herfa-Neurode liegt weit unter dem Grundwasserspiegel. Bevor es mit dem Müll abwärts geht, prüfen die Mitarbeiter jede Lastwagenladung Sonderabfall stichprobenartig.

An diesem Morgen ist es arsenhaltiger Abfall aus der Kupferverarbeitung. Der Kontrolleur an der Annahme klopft mit einem Gummihammer einen so genannten Big Bag rundherum ab. Damit überprüft er, ob sich Flüssigkeiten in dem Behälter befinden.

Danach öffnet er den weißen Weichcontainer und sucht mithilfe einer Gasspürpumpe nach unerlaubten Gasen - natürlich mit Mundschutz: "Wir haben es hier mit gefährlichen Stoffen zu tun. Man darf die Arbeit nicht zur Routine werden lassen, sondern muss sich die Gefahr immer wieder vergegenwärtigen", sagt Deponieleiter Dartsch. Eine Probe aus dem Big Bag geht direkt ins Labor.

Dartsch will wissen, ob es sich bei der Lieferung wirklich um arsenhaltigen Müll handelt. Untertage werden die Big Bags und Fässer nämlich nach Stoffgruppen getrennt gelagert, um gefährliche Reaktionen verschiedener Stoffe zu verhindern. Am Schacht, der einzigen Verbindung von Ober- und Unterwelt, beginnt die letzte Fahrt des Arsenmülls zu seiner Endlagerstätte. Bergwerk und Deponie liegen direkt nebeneinander, getrennt durch eine etwa 100 Meter dicke Wand aus Salzgestein, die die Betreiber eigens mit Beton verstärkt haben.

Das Giftgrab

Der arsenhaltige Abfall kommt in eine 300 Meter lange, künstliche Höhle. Jeweils vier der weißen Kunststoffsäcke stapeln die Arbeiter aufeinander, nach und nach füllt sich so der gesamte Hohlraum. Dass in Herfa-Neurode der Müll ausgeht, ist nicht zu befürchten.

Seit Mai 2005 müssen sogenannte "Siedlungsabfälle" - also zum Beispiel der ganz normale Hausmüll - grundsätzlich vorbehandelt werden, bevor sie auf der Deponie landen. "Und das, was bei so einer Hausmüllverbrennung übrig bleibt, etwa Schlacken und Schlämme, muss laut Vorschrift immer zu uns runter, wenn es stark belastet ist", sagt Deponieleiter Dartsch.

"Müll zu entsorgen wird immer teurer"

Toxisch nicht ganz so stark belastete Stoffe wie Bauschutt dienen in manchen anderen Bergwerken als stabilisierendes Füllmaterial Man verfüllt mit ihnen Hohlräume und verhindert auf diese Weise Einstürze. Für die Müllproduzenten ist diese Form der Entsorgung, der sogenannte Bergversatz, wesentlich billiger als die Einlagerung in eine Untertagedeponie wie Herfa-Neurode, denn Bergversatz gilt als "Müllverwertung". Inzwischen sind die Vorschriften in diesem Bereich sehr streng.

Burkhard Dartsch erklärt: "Die Genehmigungsverfahren und Sicherheitsstandards unterscheiden sich bei unseren Betrieben praktisch nicht - ob nun Sonderabfälle eingelagert oder Abfälle im Bergversatz verwertet werden." So liegen auch die Kosten für eine Tonne Sondermüll in Herfa-Neurode mittlerweile bei 260 Euro. "Müll zu entsorgen wird immer teurer", sagt Hans Gerhardy, ehemaliger Professor für das Fach Abfallwirtschaft an der Universität Clausthal.

"Als Firma überlegt man sich, wie der eigene Müll weniger werden kann." Deutschland hat im weltweiten Vergleich die höchsten Verwertungsquoten von Abfällen: 40 Prozent der Produktionsabfälle werden laut Bundesumweltministerium recycelt, bei einzelnen Abfallsorten liegen die Quoten noch höher: 77 Prozent bei Batterien, 81 Prozent bei Verpackungen, 86 Prozent bei Bauabfällen.

Selbst aus der Deponie in Herfa-Neurode hat man bereits zwölfmal Müll ausgelagert und wiederverwertet. In letzter Zeit besonders gefragt sind Transformatoren - wegen der Edelmetalle, die sich beim Recycling gewinnen lassen. Da ist es gut, wenn die Pläne der Deponie exakt verraten, wo welche Substanz in den Tiefen liegt.

Die Beschriftungen auf den verschraubten Gläsern, die im unterirdischen Probenraum in den langen Regalreihen stehen, verzeichnen genau, was in den einzelnen Fässern und Containern zu finden ist. Wer weiß, vielleicht lassen sich in Zukunft mit neuen Verfahren sogar Rohstoffe aus dem alten Wohlstandsmüll herausholen?

"10 000 Jahre ist eine Leitzahl für solche Deponien"

Bis dahin muss jedoch sichergestellt sein, dass nichts von dem giftigen Müll die Deponie unkontrolliert verlassen kann. Herfa- Neurode ist eine "Klasse IV"-Deponie. Hier liegen Abfälle mit besonderem Überwachungsbedarf.

Zum Vergleich: In Deponien der Klasse I werden oberirdisch zum Beispiel Bauschutt oder unbelastete Böden gelagert; Klasse II ist für Haus- und Gewerbemüll und ungefährliche Industrieabfälle vorgesehen, und "Klasse III"-Deponien sind oberirdische Sondermülldeponien mit besonderen Sicherheitsvorschriften.

"Überwachungsbedarf" heißt für die Betreiber von Herfa-Neurode nicht etwa Terrorismusgefahr: "Man müsste erst mal nach unten kommen, den Weg im Dunklen und praktisch ohne Beschilderung finden und dann einen anderthalb Tonnen schweren Sack nach oben transportieren", sagt Deponieleiter Dartsch.

"Das wäre doch viel zu umständlich. Viel einfacher ist es, sich hundert alte Fieberthermometer zu kaufen und zu zerbrechen - auf diese Weise könnte sich jeder billig, schnell und unauffällig hochgiftiges Quecksilber besorgen." Doch sind die gewaltigen, unterirdischen Hallen mit ihrem giftigen Inhalt wirklich gut gesichert gegen Einflüsse von außen?

Schließlich muss die Sicherheit für ein weit verzweigtes, unterirdisches Reich gelten, das noch lange abgeschottet sein muss gegen jegliche Art äußerer Einflüsse, nachdem der letzte Mensch die Deponie verlassen und sie auf ewig versiegelt hat. So muss der Deponieleiter Dartsch über Erdbeben, Vulkansausbrüche und Wassereinbrüche nachdenken, auch wenn diese Ereignisse in dieser Region eher unwahrscheinlich zu sein scheinen.

Die Deponiebetreiber müssen sehr langfristig denken. "10 000 Jahre ist eine Leitzahl für solche Deponien", erklärt der Geowissenschaftler Hans Gerhardy.

Tonmineralien quellen auf und dichten den Schacht ab - hermetisch

"Mit den heutigen Methoden - Erkundungsbohrungen vor Ort in Decke und Sole, Bohrkernuntersuchungen, Langzeitrechnungen und Simulationen am Computer - kann man 10 000 Jahre vielleicht noch einigermaßen überblicken." 100 000 Jahre wären dagegen reine Spekulation, meint Gerhardy. Über die nächsten zehn Jahrtausende machen sich die Betreiber der Deponie keine Sorgen.

Auf den ehemaligen Kaliflözen liegt eine 100 Meter mächtige Salzschicht, darüber lagern weitere Tonschichten. Unter der Deponie befinden sich mehr als 100 Meter Salz. Seit 240 Millionen Jahren herrscht hier Ruhe - bis auf die normalen Bewegungen des Berges. "Das Salzgestein wird die Gebinde in den nächsten 1000 Jahren komplett umschließen", erklärt Dartsch.

"Mineralische Abfälle - also solche mit hohem Salzanteil - wieder ins Salz zurückzubringen, erscheint mir derzeit die beste und natürlichste unter den gegebenen Möglichkeiten", sagt der Geowissenschaftler Gerhardy. Eines Tages, in ferner Zukunft wird Herfa- Neurode also komplett stillgelegt. Nach und nach werden all die riesigen Laster und Transportfahrzeuge, die kleinen Gabelstapler und Jeeps die Stollen verlassen.

Dann geht hier unten sprichwörtlich das Licht aus. Als letzten Schritt müssen die Deponiearbeiter den 800 Meter tiefen Transport- und Belüftungsschacht für immer verschließen. Früher war das ein Schwachpunkt im Sicherheitskonzept für die Ewigkeit. "Aber wir werden den Schacht so verschließen können, als sei dort nie gebohrt worden", versichert Deponieleiter Dartsch.

So ist für den unteren Schachtbereich eine Schotterfüllung vorgesehen, darüber werden mit hohem Druck Tonmineralien in die Öffnung gepresst. Sobald Grundwasser auf diese Mischung trifft, quellen die Tonmineralien auf und dichten den Schacht ab. "Hermetisch", sagt Dartsch.

Doch einige Fragen wird wohl niemals jemand mit Sicherheit beantworten können: Wie sollen unsere Nachfahren in 10 000 Jahren wissen, dass sich im Kalisalz unter ihren Füßen der Müll ihrer Vorväter befindet? Wie kann man sie davon abhalten, an dieser Stelle Förderschächte ins Erdinnere zu treiben? In Herfa-Neurode hofft man auf das Gedächtnis der modernen Informationsgesellschaft.

Aber Burkhard Dartsch schließt auch klassische Überlieferungsmethoden nicht aus - in Stein gemeißelte Botschaften etwa. Und er tröstet sich mit der Erkenntnis: "Auch wir haben die Pyramiden erforscht und ihre Funktion entschlüsselt."

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