Unerwünschter Befund:Diagnosen in der U-Bahn

Wie sollen Ärzte im Alltag reagieren, wenn sie bei fremden Menschen eine Erkrankung entdecken?

Richard Friebe

Nigel und Nark halten Dr.Perowne fest, drücken ihn in eine Mauernische. Der dritte, Baxter, steht ihm gegenüber, bereit zuzuschlagen. Baxter ist Mitte 20. In dieser prekären Lage fällt dem Neurologen Perowne das leichte unkontrollierte Zucken im Gesicht seines Gegners auf. Als Baxter seine Faust erhebt, sagt der Arzt: "Ihr Vater hatte es, und nun haben Sie es auch." In dem Roman "Saturday" von Ian McEwan rettet der 48-jährige Neurochirurg Henry Perowne mit dieser Diagnose seine eigene Gesundheit.

Unerwünschter Befund: Als U-Bahn-Diagnose ist unter New Yorker Ärzten der ungefragte medizinische Befund bekannt, weil sich in öffentlichen Verkehrsmitteln oft Gelegenheit dazu ergibt.

Als U-Bahn-Diagnose ist unter New Yorker Ärzten der ungefragte medizinische Befund bekannt, weil sich in öffentlichen Verkehrsmitteln oft Gelegenheit dazu ergibt.

(Foto: Foto: AFP)

Der junge Mann aus der Londoner Halbwelt, der ihn gerade noch verprügeln wollte, ist perplex, lässt von ihm ab, schickt seine Schläger weg, weil er nicht will, dass sie "davon" erfahren. An den Symptomen, jenem Zucken im Gesicht, der Unfähigkeit, die Augen wandern zu lassen, ohne gleichzeitig den Kopf zu bewegen, und an den schnellen Stimmungsschwankungen Baxters hat Perowne dessen Erbkrankheit erkannt.

Die Geschichte ist Fiktion. Doch nicht nur die schreckliche Erbkrankheit Chorea-Huntington, die unweigerlich einen frühen Tod und einen qualvollen Weg dorthin bedeutet, bildet die realistische Grundlage. Denn praktisch jeder Arzt und jede Ärztin findet sich jenseits von Klinik und Praxis immer wieder in Situationen, die der Perownes nicht unähnlich sind: Sie erkennen - auf der Straße, bei Veranstaltungen, im Theaterfoyer - bei wildfremden Leuten zufällig Symptome, die auf ernsthafte Krankheiten schließen lassen.

Kommt noch der Eindruck dazu, dass die Person nicht in Behandlung ist, nichts von ihrer Krankheit weiß, sieht sich der Mediziner unverhofft mittendrin in einer ethischen Zwickmühle. Soll er dem Mann mit den gelb unterlaufenen Augen, dessen Leber offensichtlich dabei ist zu versagen, Hilfe anbieten? Soll er der Frau mit dem verdächtigen Leberfleck im Nacken zu einem Besuch beim Dermatologen raten? Soll er die Mutter, die auf ihr Kind einredet, obwohl es für den Arzt deutlich erkennbar taub ist, ansprechen? Was sollen Mediziner außer Dienst in solchen Situationen tun?

"Das Thema kommt regelmäßig in Diskussionen mit Ärzten auf", sagt der Bioethik-Professor Arthur Caplan von der University of Pennsylvania in Philadelphia. Auch wenn man deutsche Mediziner fragt, erinnert sich fast jeder an entsprechende Situationen. Erstaunlich ist allerdings, dass es praktisch keine systematischen Studien darüber gibt, wie Ärzte sich dann verhalten, vor welchen Problemen sie stehen, welche Erfahrungen sie gemacht haben. "Es ist ein extrem praxisrelevantes Thema, aber überraschenderweise kümmert sich die Medizinethik nicht darum", sagt der Psychiater und Medizinethik-Professor Jochen Vollmann aus Bochum. Und in der Medizinerausbildung kommt es auch nicht vor.

Die Meinungen von Medizinethikern zu dem Thema decken ein breites Spektrum ab. Daniel Sokol von der St. George's University in London etwa sieht für Ärzte "keine ethische Verpflichtung" zu solchen Hilfsangeboten. Der Amerikaner Caplan dagegen denkt, dass es durchaus eine "Pflicht" gebe, in solchen Situationen "Besorgnis über den Gesundheitsstand des anderen zum Ausdruck zu bringen" und Hilfe anzubieten. Vollmann beschreitet den Mittelweg und sagt, der Arzt müsse "eine Güterabwägung vornehmen: zwischen der wahrscheinlichen Schwere der Krankheit und dem Eingriff in die Privatsphäre."

Diagnosen in der U-Bahn

Beschimpfungen sind der Dank

Es sollte einem Arzt jedenfalls möglich sein, jemanden unverbindlich anzusprechen, sich als Mediziner zu erkennen zu geben und zu fragen, ob man auf ein Problem hinweisen darf, sagt Gunnar Duttke vom Zentrum für Medizinrecht der Uni Göttingen. Wer direkter vorgeht - im Sinne von "Entschuldigung, Sie haben Hautkrebs", oder "Gnädige Frau, Ihr Kind scheint mir autistisch zu sein" -, läuft im Extremfall Gefahr, eine Klage wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten und informationeller Selbstbestimmung an den Hals zu bekommen.

In der Praxis außerhalb der Arztpraxen sind Mediziner also auf sich alleingestellt - was häufig dazu führt, dass man nach negativen Erfahrungen solche Hilfsversuche ganz sein lässt. Achim Jäckel etwa, Internist aus Bad Homburg, berichtet von einer Situation, als er versuchte, jemanden mit einem offensichtlich unbehandelten schweren Schilddrüsenleiden diskret auf das Problem anzusprechen und Hilfe anzubieten. "Die Reaktion war sehr abwehrend", sagt Jäckel. Ein Arzt aus England, der - wie die meisten, die von konkreten Fällen erzählen - nicht mit Namen erwähnt werden möchte, hatte an einer Bushaltestelle ein fast identisches Erlebnis, inklusive einiger nicht druckfähiger Worte.

Wer für seine Hilfsbereitschaft und den Mut, Wildfremde anzusprechen, derart entlohnt wird, wird ähnliche Versuche nicht häufig unternehmen und das, was unter New Yorker Ärzten "U-Bahn-Diagnose" heißt, fortan für sich behalten. Daniel Coelho, Professor für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde an der Virginia Commonwealth University in Richmond, sagt, er sei häufig versucht, jemanden auf sein offenbar nicht behandeltes Problem anzusprechen. Doch der "in Amerika sehr ausgeprägte Respekt vor der Privatsphäre - sogar auf Kosten der Gesundheit - und unsere sehr klagefreudige Gesellschaft, haben mich immer davon abgehalten".

In den meisten US-amerikanischen Bundesstaaten gibt es zwar ein "Gute-Samariter-Gesetz", das Notfallhelfer vor juristischen Klagen wegen möglicher Fehler schützt. "Das würde aber in solchen Fällen nicht greifen, weil sie nicht als echte Notfälle eingestuft werden würden", sagt der Medizinrechtler und Spezialist für "informelle medizinische Konsultationen", Lee Johnson aus Mt. Kisco im Bundesstaat New York. Und die Erfahrung zeigt, dass in solchen Fällen nicht der Samariter gewinnt, sondern die Seite mit dem besseren Anwalt.

Tatsächlich sind die gesellschaftlichen, sozialen und juristischen Verhältnisse ausschlaggebend beim Umgang mit unerbetenen medizinischen Ratschlägen. Von den wenigen Studien, die es über jene "informellen medizinischen Konsultationen" gibt - von der Bitte um eine ärztliche Schnelldiagnose auf einer Party bis hin zur Hilfe von Ärzten untereinander -, stammen die meisten aus Israel. Etwa von Frank Leavitt, dem Leiter des Zentrums für Asiatische und Internationale Bioethik an der Ben Gurion Universität. "Bei uns", so Leavitt, "scheint es eine im Vergleich zu anderen Ländern generell größere Bereitschaft zu geben, sofort und ungefragt Hilfe zu leisten."

Diagnosen in der U-Bahn

Reichlich Erfahrung mit Terroranschlägen, die engen Lebensverhältnisse in dem kleinen Land, die Kibbuztradition und das im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen stärker ausgeprägte Zusammengehörigkeitsgefühl könnten Gründe dafür sein. In Japan etwa sei es unvorstellbar, dass ein Arzt jemanden anspricht und ungefragt Beratung offeriert. Leavitt dagegen ist es in seiner Heimat "sogar schon passiert, dass mich ein Mediziner auf der Straße gemaßregelt hat, weil ich ohne Helm Fahrrad fuhr".

Doch je nach Leiden kann die Entscheidung viel komplizierter sein als bei der Warnung vor einem möglichen Schädelbruch im Straßenverkehr. Zum Beispiel, wenn ein Arzt glaubt, dass jemand an Akromegalie leidet. Die Krankheit könnte als Paradebeispiel für Chancen und Risiken solcher Diagnosen herhalten. Sie führt zu abnormalem Knochenwachstum, Hände und Füße vergrößern sich, Gesichtszüge werden gröber. Weil die Veränderungen langsam vor sich gehen, fallen sie der direkten Umgebung inklusive Hausarzt meist nicht auf.

Eine Welt gerät aus den Fugen

Einem Mediziner, der die Person zum ersten Mal sieht, bleiben sie dagegen kaum verborgen. Rechtzeitig erkannt, sind die Therapiechancen gut. All das spricht dafür, dem Fremden oder auch dem lange nicht gesehenen Freund oder Kollegen eine Untersuchung zu empfehlen. "Aber ein weiteres Problem hier", sagt David Asch, Internist an der University of Pennsylvania, "ist, dass Akromegalie Menschen hässlich macht. Sagt man also jemandem, man glaube, er oder sie leide darunter, sagt man damit auch, dass man die Person hässlich findet." Asch selber stand einmal vor genau dieser Entscheidung. Wie er letztendlich gehandelt hat, möchte er für sich behalten.

In Ian McEwans Roman könnte die Diagnose für den Betroffenen nicht unangenehmer und unnützer sein. Während der Doktor durch seine Diagnose davonkommt und zum Squashspielen geht, gerät Baxters Welt aus den Fugen, ohne Hoffnung auf Besserung. Die Wut darüber lässt er in den folgenden Kapiteln an Perowne und dessen Familie aus. Doch vielleicht hat McEwan noch eine andere Diagnose in dem Text versteckt, die selbst dem Arzt verborgen bleibt. Im ersten Absatz beschreibt er etwas an ihm, das manchen Patienten davon abhält, je wieder in seine Sprechstunde zu kommen: Perownes riesige, knochigen Hände.

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