Das Dach der Müllverbrennungsanlage in Hinwil, 30 Kilometer östlich von Zürich, bietet ein spektakuläres Bergpanorama. Die an diesem Frühsommertag noch schneebedeckten Gipfel der Glarner Alpen liegen zum Greifen nah. Wendet man dem Gebirgszug jedoch den Rücken zu, wähnt man sich plötzlich in einer futuristischen Industriewelt: Auf dem Dach sind 18 durch Röhren verbundene Metallboxen sowie drei Schiffscontainer mit Steuer- und Anlagentechnik gestapelt. Zusammen bilden sie eine Wand von den Ausmaßen eines Zweifamilienhauses.
Sanft brummend saugen mächtige Ventilatoren Luft in die Boxen. Mit ihren runden Öffnungen erinnern sie an überdimensionale Waschmaschinen. Doch statt Jeans und T-Shirts reinigen sie Luft - die Anlage entfernt Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Nachdem die Luft die Boxen durchströmt hat, enthält sie nur noch halb so viel CO₂ wie zuvor. Ende Mai ist die Anlage in Betrieb gegangen. Sie soll jährlich 900 Tonnen Kohlendioxid aus der Luft holen. Das entspricht dem Ausstoß von hundert Menschen in Deutschland. Wissenschaftler sprechen von "negativen Emissionen", wenn Kohlendioxid auf diese oder andere Weise aus der Atmosphäre entfernt wird - ein Ansatz, der im Kampf gegen den Klimawandel in den vergangenen Jahren viele Anhänger gewonnen hat. Gelingt es nicht, den Treibhausgas-Ausstoß radikal zu reduzieren, könnte man die Emissionen auf diese Weise wieder ausgleichen, so die Hoffnung.
"Wenn die globale Mitteltemperatur bis 2100 um nicht mehr als zwei Grad Celsius ansteigen soll, müssen wir schon in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts beginnen, der Atmosphäre umfassend Kohlendioxid zu entziehen", sagt Sabine Fuss vom Berliner Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change. Dazu bedarf es einer enormen Infrastruktur. "Um sie rechtzeitig realisieren zu können, müssen wir bereits heute darüber nachdenken, wie sie aussehen und finanziert werden könnte", erklärt die Klimaforscherin.
Der CO₂-Filter auf dem Schweizer Müllofen könnte diese Debatte nun voranbringen. "Die Anlage in Hinwil ist weltweit die erste, die Kohlendioxid im industriellen Maßstab aus der Luft abscheidet und an einen Kunden verkauft", sagt Christoph Gebald. Der gebürtige Franke ist Mit-Gründer und -Geschäftsführer des 40 Mitarbeiter zählenden Zürcher Start-ups Climeworks, das die Anlage entwickelt hat.
Das CO₂ wird derzeit in ein Gewächshaus geleitet. Dem Klima hilft das eher nicht
Deren Herzstück ist eine Matte aus einem zelluloseartigen Filtermaterial, das mit Ammoniak-Derivaten, sogenannten Aminen, ausgerüstet ist. Sie binden das Kohlendioxid aus der durchströmenden Luft. Nach je drei Stunden ist das Material gesättigt. Dann werden die Ventilatoren abgestellt, die Metallboxen verschlossen und deren Innenraum auf knapp 100 Grad Celsius erhitzt. Das geschieht mit Wärme aus dem Müllheizkraftwerk. Nach und nach löst sich das Kohlendioxid von den Aminen - und der Kreislauf beginnt von Neuem.
Das Treibhausgas wird abgesaugt und in einem großen Plastiksack zwischengespeichert. Ist er voll, wird das Gas in der Anlage verflüssigt. Über eine Rohrleitung wird das Kohlendioxid dann zu dem wenige Hundert Meter entfernten Gewächshaus eines Gartenbaubetriebes transportiert. Wie ein Dünger beschleunigt es dort das Wachstum von Tomaten- und Gurkenpflanzen, denn mehr CO₂ in der Luft fördert die Fotosynthese. Dem Kampf gegen den Klimawandel dient dies allerdings nicht, da das Treibhausgas beim Verrotten der Biomasse wieder freigesetzt wird. Streng genommen belastet die Anlage das Klima derzeit sogar - weil sie einen Teil des Stroms verbraucht, den die Müllverbrennungsanlage produziert.