Schon lange treiben keine Schaumberge mehr auf den Flüssen, und gerade erst hat die Europäische Umweltagentur wieder Bestnoten für fast alle europäischen Badestellen verteilt. Doch der schöne Schein trügt. Fast jedes zweite europäische Gewässer ist durch Chemikalieneinträge mittel- bis langfristig bedroht, und in mehr als jedem sechsten gefährden Pestizide, Brandschutzmittel und andere Schadstoffe Wasserorganismen ganz akut. Besonders empfindlich sind dabei die Wirbellosen wie Insekten, Krebse oder Schnecken, berichten Forscher aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz im Wissenschaftsmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences (online).
"Unsere Ergebnisse deuten sehr darauf hin, dass die EU ihr Ziel, die Gewässerqualität bis 2015 deutlich zu verbessern, nicht erreichen wird", sagt Ralf Schäfer von der Universität Koblenz-Landau. Die ökologischen Risiken durch Chemikalien seien wesentlich höher als bisher angenommen. Die Studie widerlegt Schäfer zufolge außerdem eine gängige Meinung von Umweltbehörden und einigen Fachkollegen, nach der die Gewässer zwar die eine oder andere ökotoxikologische Problemzone hätten, insgesamt aber nur wenig belastet seien.
Für ihre Untersuchungen werteten die Forscher behördlich erfasste Daten aus rund 4000 Flüssen quer durch Europa aus. Sie fanden 35 ökologisch besonders bedenkliche Chemikalien in Konzentrationen, die Fischarten, Algen und wirbellose Tiere krank machen oder töten können. In mehreren Flüssen in Nordfrankreich, Nordengland und dem Baltikum wiesen 75 Prozent oder mehr der Messstellen im Mittel Konzentrationen der Substanzen auf, die auf Dauer dem Leben im Wasser schaden (siehe Grafik).
Unter den akut gefährlichen Chemikalien sind Pestizide am weitaus häufigsten vertreten. Daneben spielen unter anderem auch Flammschutzmittel und organische Zinnverbindungen wie das Biozid Tributylzinn eine Rolle, das eigentlich verboten, aber noch als Schutzschicht auf Schiffsrümpfen aufgetragen ist. Die Wirkung solcher Stoffe auf Algen und Wirbellose ist in hohen Konzentrationen oft tödlich. Fische dagegen leiden vor allem an Wachstums- oder Fortpflanzungsstörungen.
Jedes Land reguliert nach Gutdünken
Die Forscher fordern deshalb, die Gefahren durch Chemikalien künftig deutlich stärker zu gewichten als bisher. Zurzeit liegt der Fokus der EU-Maßnahmen zum Gewässerschutz darauf, die Nährstoffeinträge zu senken und Flüsse zu renaturieren. "Diese zum Teil millionenschweren Projekte führen aber nicht zum Erfolg, wenn etwa der neu angelegte natürliche Flusslauf unterhalb landwirtschaftlich stark genutzter Flächen verläuft und deshalb durch Pestizide belastet wird", erklärt Schäfer. Tatsächlich, räumt Volker Mohaupt vom Umweltbundesamt ein, werden die Risiken durch Pestizide schon seit Jahren unterschätzt und vor allem in kleinen Gewässern zu wenig überprüft.
Die Gefahr durch Chemikalien könnte zudem noch viel größer sein, als es die ermittelten Risikowerte vermuten lassen. So berücksichtigt die Studie nicht, ob sich bestimmte Schadstoffe in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken oder ob beim Abbau noch giftigere Substanzen entstehen. Zudem messen längst nicht alle Länder so vorbildlich wie etwa Frankreich. "Die Gewässer Spaniens zum Beispiel scheinen unserer Auswertung zufolge kaum gefährdet zu sein. Das liegt wahrscheinlich daran, dass dort weniger besonders bedenkliche Chemikalien erfasst wurden und manche Daten unbrauchbar waren", sagt Schäfer.
Nur für rund 40 sogenannte prioritäre Substanzen, die als besonders gefährlich für ganz Europa gelten, schreibt die EU einheitlich ein monatliches Monitoring vor. "Viele dieser Substanzen sind heute glücklicherweise nicht mehr zugelassen, und ihre Konzentrationen gehen vielerorts zurück", sagt Werner Brack vom Helmholtz-Umweltzentrum in Leipzig, der ebenfalls an der Studie beteiligt war. Doch zahlreiche aktuell verwendete, bedenkliche Chemikalien würden eben nicht oder nur sporadisch erfasst. Die Länder entscheiden im Wesentlichen nach Gutdünken, welche Chemikalien sie wann und wo detektieren.
Das betrifft auch biologische Messungen, die sogar innerhalb Deutschlands, wo die Datenerhebung Ländersache ist, variieren. "In Bayern zum Beispiel wird seit den 1980er-Jahren immer an denselben Stellen gemessen, während in Niedersachsen die Messorte häufig gewechselt werden, um den Zustand in der Fläche zu erfassen", berichtet Ralf Schäfer. Das erschwere die Vergleichbarkeit und Interpretation. "Fast schon ein Schildbürgerstreich" sei es zudem, dass viele Regionen die Probestellen für chemische und biologische Analysen nicht aufeinander abzustimmen und so Ursache und Wirkung nicht verknüpfen.
Die Forscher wünschen sich außerdem freien Zugang zu den Rohdaten, am besten zentral über die EU. Von den chemischen Messungen erfahren sie zurzeit lediglich Mittel- und Maximalwerte, die zum Beispiel nichts darüber aussagen, wann potenziell schädliche Stoffe in die Gewässer gelangt sind. Auch die Frage, welche Stoffe welche Arten gefährden, können sie wegen der ungenügenden Datenlage nicht beantworten. "Wir bekommen über die EU lediglich die Information, ob der biologische Zustand eines Gewässers gut, mittel oder schlecht ist. Dadurch sind wir in der Situation eines Mediziners, der nur mit Blutdruckwerten den Ausbruch einer Krebskrankheit feststellen soll", klagt Schäfer.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind ebenfalls wenig geeignet, Entlastung zu bringen. So darf jedes EU-Mitgliedsland für manche Chemikalien eigene Grenzwerte festlegen, obwohl Flüsse keine Landesgrenzen kennen. "Die Wasserrahmenrichtlinie ist relativ zahnlos. Bei einer Überschreitung heißt es lediglich, dass Gegenmaßnahmen ergriffen werden müssen", bemängelt Schäfer. Für das ursprüngliche Ziel, dass bis 2015 alle Gewässer einen guten ökologischen Zustand haben sollen, wurden schon Ausnahmen bis 2027 erteilt. Den Forscher würde es nicht wundern, wenn die Fristen in den 2020ern noch einmal verlängert werden.