Süddeutsche Zeitung

Umwelt:Ödnis auf dem Meeresgrund

Seegraswiesen schwinden fast ebenso schnell wie der tropische Regenwald. Sie sind auch ähnlich wichtig für das ökologische Gleichgewicht der Erde. Trotzdem kümmert das kaum jemanden.

Von Gabriele Kerber

In der kleinen Badebucht auf Hawaii sind die meisten Urlauber damit beschäftigt, Unterwasser-Selfies zu machen. Kaum einer sieht die große Grüne Meeresschildkröte, die wenige Meter neben den Touristen schwimmt und das Seegras abweidet. Dass das Tier unentdeckt bleibt, liegt nicht nur an der fehlenden Aufmerksamkeit der Menschen, sondern auch am trüben Wasser. Lange wird es die Schildkröten in dieser Bucht wohl nicht mehr geben, denn ihr Futter, das Seegras, kann im trüben Wasser nicht überleben. Es braucht Sonnenlicht, um Fotosynthese zu betreiben, aber aufgewirbelter Sand und Algen im Wasser schlucken das Licht. Das ist nicht nur vor Hawaii ein Problem: Seegraswiesen, die Weiden der Meere, sind fast überall auf der Welt bedroht.

Derzeit sind von den Tropen bis in die Subpolargebiete 72 Seegrasarten bekannt. Jede fünfte ist nach der Weltnaturschutz-Union IUCN stark gefährdet, gefährdet oder potenziell gefährdet. Nach einer Übersicht, die vor einiger Zeit im Fachmagazin PNAS erschien, schrumpfen die Wiesen weltweit jährlich um etwa sieben Prozent. Die Zerstörung schreitet damit ähnlich dramatisch voran wie jene von Regenwäldern oder Korallenriffen, nur dass das Seegras nicht annähernd die gleiche Aufmerksamkeit bekommt. Zu schaffen macht den Wiesen vor allem das Wasser, das von Sedimenten getrübt und mit Nährstoffen überdüngt wird, die Flüsse in die küstennahen Meeresregionen bringen.

Tobias Dolch vom Alfred-Wegener-Institut (Awi) auf Sylt untersucht Seegraswiesen seit Jahren. "Der ganze Metabolismus dieser Pflanze ist nicht darauf ausgelegt, mit hohen Nährstoffeinträgen umzugehen", sagt er. "Da gibt es halt Begleiterscheinungen, zum Beispiel opportunistische Makroalgen, die richtig dicke Matten ausbilden und Seegras einfach ersticken." Oder Pflanzen und Algen, die auf den Seegras-Blättern wachsen und mit diesen um das Licht konkurrieren.

Es gibt kein anderes küstennahes Ökosystem mit einer derart globalen Ausbreitung und einer so globalen Bedrohung, denn Nährstoffeinträge sind ein Problem an allen besiedelten Küsten. Ebenso wie die Zerstörung der Wiesen durch Küstenbefestigungen, Landgewinnung, Schleppnetzfischerei, Aquakultur und mechanische Beschädigung durch Schiffsschrauben und Anker.

Seekühe und Schildkröten weiden unter Wasser. Genauso wie Rinder und Schafe an Land

Oft haben die Schuldigen keine Ahnung, wie wichtig die Pflanzen sind. So wie Kühe oder Schafe Wiesen an Land abgrasen, sind Seegraswiesen unter anderem Weidegrund für Meeresschildkröten und Seekühe. Zugleich dienen sie vielen Fischarten als Laichplatz und Versteck, und sie sind ein Lebensraum für Krebse und Muscheln. Tropische Seegraswiesen schützen Korallenriffe, indem sie das Wasser sauber und nährstoffarm halten; außerdem sind sie Kinderstube für Riff-Fische und andere Tiere.

Auch im Wattenmeer sind Seegraswiesen im Frühjahr und Sommer Laichgrund und Versteck für etliche Nordsee-Fische. Und sie sind eine wichtige Nahrung für Millionen Seevögel, die im Herbst auf dem Weg nach Süden hier rasten, bevor sie zu ihrem Flug quer über Europa aufbrechen. Millionen Menschen ernähren sich von den Fischen und Schalentieren, die in Seegraswiesen heimisch sind. Obendrein verlangsamen die Meeresweiden den Klimawandel, da sie große Mengen Kohlendioxid aufnehmen und über ihre ausgedehnten Wurzelsysteme und unterirdischen Sprossachsen im Meeresboden ablagern.

Der Klimawandel und der damit verbundene Anstieg der Wassertemperaturen macht den Pflanzen aber dennoch zu schaffen. Viele Seegras-Arten wachsen nur wenige Zentimeter im Jahr, die einzelnen Pflanzen sind sich genetisch oft sehr ähnlich. Solchen Lebewesen fällt es extrem schwer, sich an veränderte Umweltbedingungen wie etwa eine Erwärmung des Wassers anzupassen. Zudem wächst Seegras im Flachwasser, das die Sonne während der immer häufigeren Hitzewellen extrem aufheizt. Da werden schnell die verträglichen Temperaturen überschritten, wie Catherine Collier von der James-Cook-Universität im australischen Townsville in der Fachzeitschrift Marine Pollution Bulletin zeigte.

Erstaunlicherweise hat der jüngst zu Ende gegangene Rekord-El-Niño, der das Wasser mancherorts monatelang um bis zu vier Grad Celsius erwärmte, den Seegraswiesen nicht geschadet. Während etwa die Korallen des Great Barrier Reefs in Australien schwer geschädigt wurden, geht es den Seegraswiesen bei Cape York in Queensland erstaunlich gut. "Die Wassertemperaturen waren 2015 und 2016 an einigen Stellen des nördlichen Great Barrier Reef wärmer als in früheren Jahren, aber auf das Seegras scheint es diesmal keine Auswirkungen gehabt zu haben", sagt Catherine Collier. Die Wissenschaftlerin untersuchte zwei Stellen, an denen die Wassertemperatur besonders stark angestiegen war, fand aber keinerlei Anzeichen von Hitzestress an den Pflanzen. Auch die Seegrasmenge ist seit Oktober 2015 nicht zurückgegangen.

Das ist eine gute Nachricht, auch weil die Unterwasser-Wiesen das schwer geschädigte Korallenriff bei der Genesung unterstützen können. Doch es droht neue Gefahr: Meist folgt auf ein El-Niño-Ereignis, das in Australien Dürreperioden zur Folge hat, das Gegenstück namens La Niña, das heftige Regenfälle und Überflutungen mit sich bringt. Collier befürchtet, dass mit dem Regen noch mehr Düngemittel und Schmutz in die inneren Bereiche des Riffs gespült werden. "Dadurch wird die Lichtdurchlässigkeit zum Boden verringert", sagt sie - schlechte Nachrichten für das Seegras.

In einigen Regionen der Welt ist es mittlerweile gelungen, die Überdüngung des Wassers in den Griff zu bekommen, zum Beispiel im nördlichen Wattenmeer, dem Forschungsgebiet von Tobias Dolch. Dort hat sich die Ausdehnung der Seegraswiesen im Gezeitenbereich seit Mitte der 90er-Jahre vervielfacht, sie ist zurück auf dem Stand der 1930er-Jahre. Das ist weltweit einer der größten Erfolge, den Schutzmaßnahmen zu verzeichnen haben. Allerdings sind die Umstände im nördlichen Wattenmeer generell günstig: "Wir haben viele Bereiche, die strömungsberuhigt liegen, der Unterschied zwischen Ebbe und Flut ist gering, und das nördliche Wattenmeer hat wenig Süßwasserzuflüsse", sagt Dolch.

Im Wattenmeer könnte es dem Seegras bald etwas besser gehen, weltweit sieht es anders aus

Das alles ist im südlichen und zentralen Wattenmeer anders, wo es kaum noch Seegraswiesen gibt. Vor allem in Hinblick auf den Klimawandel und den dadurch steigenden Meeresspiegel schlagen Wissenschaftler wie Dolch radikalere Maßnahmen vor, um dem Seegras dort wieder eine Chance zu geben. Zum Beispiel könnte man gezielt Sediment einspülen, damit die verbleibenden Seegraswiesen nicht in der Tiefe versinken. Oder Deiche zurücksetzen, um dem Watt Raum im Landesinneren zu geben. Generell ist Tobias Dolch jedoch vorsichtig optimistisch: Er glaubt, dass es dem Seegras bald auch im südlichen und zentralen Wattenmeer etwas besser gehen wird. Weltweit jedoch sieht es anders aus - eine Erholung ist nicht in Sicht.

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Quelle:
SZ vom 19.10.2016
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