Umweltgifte:Tödliches Gummi

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Das Fischgift soll Reifen eigentlich vorm Zerbröseln schützen. Durch den steten Abrieb gelangt es jedoch in die Umwelt. (Foto: imago images/blickwinkel)

Forscher finden im Abrieb von Autoreifen eine toxische Substanz, die weltweit für massives Fischsterben verantwortlich sein könnte.

Von Andrea Hoferichter

Jedes Jahr im Herbst steuern Silberlachse aus dem Pazifik das Flüsschen Longfellow Creek nahe der US-Küstenstadt Seattle an, um dort zu laichen. Die meisten Fische verenden allerdings, bevor sie ihr Ziel erreichen. "Der Longfellow Creek ist einer der ersten Orte, an dem wir vor 20 Jahren dokumentiert haben, wie viele Fische sterben, wenn sie zur Eiablage kommen", sagt Jenifer McIntyre von der Washington State University. Das Phänomen werde aber auch in anderen urbanen Regionen der Westküste beobachtet und zwar immer dann, wenn heftige Regenfälle den Dreck von den Straßen in die Flüsse spülten. "In dieser Suppe stecken Tausende Chemikalien", sagt die Forscherin. Lange sei unbekannt gewesen, welche dieser Substanzen für das beobachtete Sterben verantwortlich sind.

Dieses Geheimnis konnten McIntyre und ein Team der University of Washington nun lüften. Sie fanden ein starkes Fischgift, das bis dahin noch niemand auf dem Schirm hatte. Es heißt "6PPD-Chinon" und steckt im Abrieb von Autoreifen, der bei Regen in die Flüsse geschwemmt wird. Das berichtet das Team jetzt in Science. Die toxische Substanz bildet sich aus dem gängigen Reifen-Antioxidationsmittel "6PPD", wenn der Zusatzstoff aggressive, sauerstoffhaltige Verbindungen abfängt - vor allem Ozon, das aus stickoxidhaltigen Autoabgasen entsteht. Das Fischgift sei vermutlich an allen verkehrsreichen Orten der Welt zu finden, schreiben die Forscher.

Weniger als ein Milligramm in 1000 Litern kann Bestände halbieren

Um den Giftstoff zu entlarven, produzierten sie mit einem Winkelschleifer Abrieb aus alten wie neuen Reifen verschiedener Hersteller und gossen Wasser darauf, um Regen zu imitieren. Mehr als 2000 Substanzen lösten sich. Das Team trennte einzelne Stoffe und Stoffgruppen ab, identifizierte sie und recherchierte, wie giftig sie sind. Die meisten konnten den Lachstod nicht erklären. Der Verdacht konzentrierte sich schließlich auf eine damals unbekannte Substanz. "Wir wussten nur, dass sie 18 Kohlenstoffatome enthält, 22 Wasserstoff-, zwei Stickstoff- und zwei Sauerstoffatome", sagt Zhenyu Tian von der University of Washington. Ein Vergleich mit den Zutaten gängiger Reifenfabrikate brachte den Umwelttoxikologen auf die Spur des Reifenzusatzstoffs 6PPD. Und tatsächlich bildete 6PPD im Kontakt mit Ozon ein hochpotentes Fischgift. Wie toxisch 6PPD-Chinon wirkt, zeigten Tests an jungen Lachsen. Schon weniger als ein Milligramm in 1000 Litern Wasser kann einen Bestand in wenigen Stunden halbieren. In Wasserproben, die das Team bei Starkregen an Straßen und Flüssen genommen hat, lagen die Konzentrationen oft deutlich höher.

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Zwar kann auch der ursprüngliche Reifenzusatzstoff 6PPD Wasserorganismen schaden, allerdings erst in deutlich höheren Dosen. "Die Konzentrationen im Reifenabriebwasser waren nicht hoch genug, um die Fische zu töten", sagt Edward Kolodziej von der University of Washington. Das liege auch daran, dass sich der Zusatzstoff eher schlecht in Wasser löse und chemisch instabil sei. Der 6PPD-Abkömmling hingegen erklärt nicht nur das Silberlachssterben in der Pazifikbucht vor Seattle, sondern auch in anderen Regionen der Westküste. Das zeigten Wassertests nach Unwettern bei Los Angeles und San Francisco. Ob 6PPD-Chinon auch ein Gesundheitsrisiko für Menschen ist, muss noch geklärt werden. Bedenklich sei auch Kunstrasen, weil dieser oft Krümel alter Autoreifen enthalte, heißt es in der Publikation. Zudem könnten andere Produkte mit Gummikomponenten die kritische Substanz freisetzen.

6PPD-Chinon könnte auch Forellen und andere Fische gefährden

"Die Forscher haben erstmals gezeigt, dass es fatale Folgen haben kann, wenn sich Zusatzstoffe aus Reifenabrieb lösen. Das ist schon ein Quantensprung", sagt Jörg Oehlmann von der Goethe-Universität Frankfurt. Die Studie sei außerdem ein überzeugendes Beispiel dafür, wie aus einem als unproblematisch bewerteten Stoff ein Riesenproblem werde. Die toxische Wirkung betreffe vermutlich nicht nur die Silberlachse aus dem Pazifik. "Wir haben auch bei uns ähnlich empfindliche Tiere, die Meerforelle zum Beispiel, die Bachforelle oder den Saibling", sagt der Ökotoxikologe. Der Reifenzusatzstoff und seine chemischen Abkömmlinge könnten eine Erklärung dafür sein, dass sich viele heimische Fischarten nicht mehr ausreichend fortpflanzten. Das gelte es nun zu prüfen und auch, wie sich die Substanzen auf Muscheln, Würmer und andere aquatische Organismen auswirkten.

Um den Eintrag potenziell giftiger Substanzen in die Gewässer zu verringern, wäre es Oehlmann zufolge wichtig, belastetes Regenwasser durch Kläranlagen zu schleusen. Dort wird ein großer Teil des Mikroplastiks aufgehalten. "Das Problem muss endlich angegangen werden", fordert er. Zurzeit strömt das Wasser von deutschen Straßen je nach Abwassersystem entweder das ganze Jahr ungefiltert in Bäche und Flüsse oder zumindest bei Starkregen, wenn den Kläranlagen Überlastung droht.

Nachhaltig wäre es zudem, die Quelle des Übels abzustellen und umweltfreundliche Reifenrezepte zu entwickeln. Der Forscher Kolodziej jedenfalls wünscht sich, dass es bald "lachssichere Reifen" gibt. Und er plädiert dafür, bei Risikobewertungen immer auch die chemischen Abkömmlinge einer Substanz ins Visier zu nehmen. "Wir empfehlen eine sorgfältigere toxikologische Bewertung von Umwandlungsprodukten aller Massenchemikalien, die in die Umwelt gelangen können."

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