Umwelt:Endlich keine Kohle mehr

NGS Picture Id:1777554

Noch immer stammen rund 40 Prozent des weltweit erzeugten Stroms aus Kohlekraftwerken.

(Foto: Robb Kendrick)

Kohle war schon immer ein brutaler Energieträger. Dass sich ihr Zeitalter dem Ende zuneigt, lässt auf eine sauberere und gerechtere Welt hoffen - wenn es rechtzeitig kommt.

Von Marlene Weiß

Gut 120 Meter unter der Oberfläche in einer illegalen Kohlemine in Indien ist das Leben eines Menschen nicht mehr viel wert. "Alles um dich herum ist nur einen Hauch vom Zusammenbruch entfernt", schreibt der Fotograf Robb Kendrick, der für National Geographic vor einigen Jahren die Bilder auf diesen Seiten gemacht hat, über seine Erfahrungen in den dunkelsten Ecken der Kohleindustrie. "Wacklige Leitern, die hinab in nasse Dunkelheit führen, kein Fluchtweg, keine Wasserpumpen, kein Licht, keine Lüftung; Minenarbeiter in Flip-Flops und Shorts, die sich im Dunkeln eine Zigarette anzünden, wenn sie Pause machen." Auf dem Rücken liegen die Arbeiter in schmalen, unbefestigten Gängen, "Rattenlöcher" genannt, und hacken Kohle aus dem Untergrund. Wenn irgendetwas schief geht, sind alle hier unten tot.

Kohle war schon immer ein schmutziger und brutaler Energieträger, und am grausamsten ist er zu den Ärmsten der Armen. Das beginnt in den Minen, die Kendrick fotografiert hat, es geht weiter in den Regionen rund um schmutzige Kohlekraftwerke - etwa in China, deren Dreck alljährlich Zigtausende tötet, und es hört bei den Opfern des Klimawandels noch lange nicht auf. Kohle hat die Dampfmaschinen der industriellen Revolution befeuert, sie hat die moderne Welt erst ermöglicht und kann sie noch in den Untergang treiben. Doch jetzt sieht es aus, als sei ihre Zeit um.

Dabei war lange gegen Kohle einfach nicht anzukommen. Zu groß war der Energiehunger, zu üppig die Lagerstätten, zu billig das Produkt; überall schossen neue Kohlekraftwerke aus dem Boden. Noch immer stammen rund 40 Prozent des weltweit erzeugten Stroms aus Kohlekraftwerken. Aber inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass das Ende des Kohlezeitalters naht. Und was für eine Hoffnung für die Menschheit in diesem Ende liegt: auf eine bessere, gerechtere, sauberere Welt, auf eine Welt, in welcher der Klimawandel einigermaßen erträglich bleibt - falls das Ende denn rechtzeitig kommt.

China hat Anfang des Jahres 103 geplante Kohlekraftwerke gestoppt

Die Chancen dafür stehen jedenfalls zur Zeit so gut wie nie zuvor. Zwar werden noch immer neue Kohlekraftwerke gebaut, aber das Tempo ist eingebrochen: 2016 kamen die neuen Kohlemeiler im Bau laut einem aktuellen Greenpeace-Bericht weltweit nur noch auf eine Kapazität von 65 Gigawatt, fast zwei Drittel weniger als noch 2015. Der weltweite Kohleverbrauch geht seit 2014 zurück und könnte durchaus weiter sinken. China und Indien, die lange ein Kohlekraftwerk nach dem anderen ans Netz nahmen, sind dabei, sich von der Kohle abzuwenden. Indien will kaum noch neue Kraftwerke bauen, China hat Anfang des Jahres 103 geplante Kohlekraftwerke gestoppt.

Teils werden nun wohl halb fertige Meiler zu Bauruinen, weil China keinen Bedarf mehr für sie hat. Noch in diesem Jahr will das Land obendrein ein nationales Handelssystem für Emissionsrechte starten: Dann müssen Betreiber von Kraftwerken für jede Tonne CO₂, die sie in die Luft pusten wollen, ein Zertifikat besitzen. Wer nicht genug CO₂-Scheine vorweisen kann, muss sparsameren Kollegen welche abkaufen. Beide Länder bauen in rasantem Tempo erneuerbare Energien aus.

In Großbritannien war kürzlich erstmals seit sehr langer Zeit 24 Stunden lang kein einziges Kohlekraftwerk am Netz. Schon 2025 soll dort das letzte Kohlekraftwerk dauerhaft abgeschaltet werden. Seit auf das CO₂, das Kraftwerke emittieren, eine schmerzhafte Abgabe erhoben wird, ist der Kohlestrom-Anteil im Vereinigten Königreich eingebrochen, die Anlagen rechnen sich kaum noch. Auch in den USA werden derzeit kaum noch Kohlekraftwerke geplant, stattdessen schalten die Betreiber dutzendfach alte Meiler ab. Wind- und Sonnenenergie, selbst Erdgas sind im Land des Frackings schlicht billiger. Präsident Donald Trump will zwar nach eigener Aussage Frieden mit der Kohle schließen, aber vermutlich kommt er damit zu spät. Wenn es so weitergeht, wird das Zeitalter der Kohle bald für immer vorbei sein, ob es Trump passt oder nicht.

Trotzdem können Mächtige wie Trump, die die Zeichen der Zeit nicht sehen oder nicht sehen wollen, noch eine Menge Schaden anrichten, falls es ihnen gelingt, das Ende hinauszuzögern. Ein Jahrzehnt mehr oder weniger kann für den Klimawandel den Unterschied zwischen "gerade noch erträglich" und "absolut katastrophal" machen. Und dass so ein Kohleausstieg trotz aller wirtschaftlichen und klimapolitischen Offensichtlichkeiten kein Selbstläufer ist, zeigen auch Länder wie Deutschland, die sich geradezu zwanghaft an der Kohle festklammern.

Die Geschichte der Kohle war nie romantisch

Aber selbst hierzulande wird es nicht ewig weitergehen. Am Nachmittag des 30. April lieferten Wind und Sonne in Deutschland so viel Strom, dass die Kohlekraftwerke auf nicht einmal ein Sechstel ihrer üblichen Leistung heruntergefahren werden mussten. Trotzdem waren die Preise an der Strombörse stundenlang negativ, die Betreiber mussten noch draufzahlen, um ihren Strom loszuwerden, weil das Netz randvoll war mit Ökostrom. Viel Geld kann man so nicht mehr verdienen.

Kein Wunder, dass immer mehr Kraftwerke unrentabel werden. Elf Steinkohle-Blöcke haben die Betreiber bereits bei der Bundesnetzagentur zur Stilllegung angemeldet; hinzu kommen neun Braunkohle-Kraftwerke, die bis 2019 mit staatlicher Entschädigung aus dem Verkehr gezogen werden, offiziell vorerst als "Sicherheitsreserve". Im Bau ist mit Datteln 4 derzeit nur ein einziges Steinkohlekraftwerk, hinzu könnte ein neuer Braunkohle-Block in Niederaußem kommen, den RWE erwägt. Weitere Meiler sind nicht in Sicht: Europas Stromkonzern-Verband Eurelectric hat kürzlich in einem historischen Schritt erklärt, dass von 2020 an keine neuen Kohleblöcke mehr gebaut werden sollen. Nur die Stromerzeuger von Polen und Griechenland haben nicht unterschrieben.

Sicher ist der Abschied von der Kohle ein großes Abenteuer

Ende April hat die EU obendrein gegen den Widerstand Deutschlands die Umweltstandards für Kraftwerke verschärft, künftig dürfen sie weniger Quecksilber, Schwefeldioxid und Stickoxide ausstoßen. Nun werden einige Braunkohlekraftwerke teure Katalysatoren brauchen. Wenn im kommenden Jahr die Steinkohle-Subventionen auslaufen, werden mit Ibbenbühren im Münsterland und Prosper-Haniel in Bottrop die letzten Steinkohle-Zechen in Deutschland schließen. Rentabel ist der Steinkohleabbau schon lange nicht mehr. Auch neue Braunkohle-Tagebaue lohnen sich oft nicht mehr.

Damit geht eine Geschichte zu Ende, die - nüchtern betrachtet - alles andere als romantisch ist. Noch in den Fünfzigerjahren starben Bergleute oft früh an einer Staublunge, im Schnitt mit rund 60 Jahren. Immer wieder kamen Menschen bei schweren Gruben-Explosionen zu Tode, zuletzt 1962 im Saarland, als ein Unglück 299 Tote forderte. Ja, die Arbeit wurde dann sicherer und angenehmer, und der Strukturwandel ist für die betroffenen Regionen sehr hart. Aber der Klimawandel ist auch kein Spaß, schon gar nicht in Ländern, die ärmer sind als Deutschland.

Die jüngere Vergangenheit der Braunkohle in Deutschland ist erst recht eine von Unrecht und Leid. In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts gehörte ein Großteil der deutschen Braunkohle-Produktion zum Imperium der böhmischen Brüder Ignacz, Julius und Isidor Petschek. Die Nazis verfolgten die jüdische Familie, von 1938 bis 1939 wurde der Besitz enteignet oder zwangsverkauft und ging schließlich größtenteils an den Flick-Konzern. Die Betriebe im Osten Deutschlands wurden später zu "Volkseigentum" erklärt. Dort setzte sich der Raubzug fort: Dörfer wurden umgesiedelt, Bewohner mussten ihre Häuser und ihre Heimat verlassen, ganze Landstriche wurden zu Mondlandschaften. Unter der dreckigen Luft hatten alle zu leiden. Wo, bitte, ist da Grund zur Nostalgie?

Heute arbeiten in Deutschland noch rund 20 000 Menschen in der Braunkohle-Industrie. Auf Regionen wie die Lausitz kommt ein harter Strukturwandel zu. Aber unvermeidlich ist der ohnehin. Vielleicht sollte man ihn mit Mut und Optimismus angehen, statt sich dagegen zu stemmen.

Doch ein systematischer Kohleausstieg, am Ende gar mit festem Datum, bleibt in Deutschland politisch ein Angstthema. Egal, dass Deutschland seine Klimaschutz-Ziele weit verfehlt, egal, dass hierzulande vier der fünf klimaschädlichsten Kohlekraftwerke Europas stehen, egal, dass das Land der Energiewende sich mit diesem Versagen bis auf die Knochen blamiert: Die Kohle wagt niemand anzufassen, schon gar nicht in der SPD.

Warum hängen ausgerechnet Sozialdemokraten so an der Kohle?

Eigentlich seltsam, dass ausgerechnet Sozialdemokraten so an der Kohle hängen. Denn gerade sie sollten doch eigentlich froh sein, wenn das verdammte Zeug endlich in der Erde bleiben kann: Schließlich könnte man einen weltweiten Abschied von der Kohle durchaus auch als ein beispielloses - und überfälliges - Projekt der sozialen Gerechtigkeit betrachten. Sicher ist ein Abschied von der Kohle ein großes Abenteuer. Zwar haben viele Studien gezeigt, dass es möglich und bezahlbar ist, ohne die stabile Stromlieferung von Kohle- und Atomkraftwerken auszukommen. Aber es ist eine Kehrtwende hin zu einem völlig neuen System, das auf der schwankenden Produktion von Windrädern und Solaranlagen basiert. Das erfordert Mut, ausprobiert hat es noch niemand.

Viele Menschen, die bislang von der Kohle gelebt haben, werden ihr Leben umkrempeln müssen und dabei Hilfe benötigen. Aber es muss sein. Denn so lange im großen Stil Kohle verbrannt wird, bleibt der Klimawandel unbeherrschbar. Und seine ersten Opfer sind gerade die Armen in Entwicklungs- und Schwellenländern, die wenig Möglichkeiten haben, sich gegen Stürme, Fluten und Dürren zu wappnen. Auch unter den Umweltschäden im Kohleabbau leiden die Reichen als Letzte; sie sind es auch nicht, die in manchen Minen ihr Leben riskieren. Andersherum haben gerade die Menschen in entlegenen Regionen, übrigens auch viele Minenarbeiter, mangels Netzanschluss rein gar nichts vom Kohlestrom; ihnen ist mit kleinen Wind- oder Solaranlagen eher geholfen.

Wo bleibt die Solidarität? 1885 veröffentlichte Emile Zola seinen flammenden Roman "Germinal" über die erbärmlichen Bedingungen in französischen Bergwerken. Männer, Frauen und Kinder schufteten für Hungerlöhne und lebten im Elend. Am Ende des Buches, nach einem gescheiterten Streik, einem furchtbaren Grubenunglück und dem Tod seiner Geliebten, zieht der Held Etienne weiter, in den Frühling hinein. Mit den Pflanzen keimt derweil die sozialistische Revolution, auf dem Boden der himmelschreienden Ungerechtigkeit.

Aber die Revolutionen kamen und gingen, vielen Menschen, die mit der Kohle leben müssen, geht es immer noch mies. Vielleicht nicht mehr in Frankreich, dafür in anderen Regionen. Wirklich schön ist Kohleabbau nirgendwo. Deutschland bezieht Steinkohle vor allem aus Russland, den USA, Kolumbien und Australien. In Russland wird Steinkohle unter anderem im Tagebau in Sibirien abgebaut; das Trinkwasser und die Luft werden verdreckt, aufgegebene Tagebaue sind ökologisch ruinierte Wüsten. Auch Kolumbien baut Kohle über Tage ab, oft unter schweren Menschenrechtsverletzungen und katastrophaler Umweltzerstörung. Selbst in den USA hat der Kohle-Abbau üble Schäden angerichtet, in West Virginia etwa, wo Berggipfel weggesprengt werden, um an die Steinkohle darunter zu kommen. Australien wiederum bedroht mit dem Ausbau von Häfen für den Abtransport der Kohle das leidende Great Barrier Reef, eines der kostbarsten Ökosysteme der Erde. Laut mehreren Schätzungen, die Greenpeace 2016 zusammengetragen hat, sterben mehr als 800 000 Menschen jährlich vorzeitig an der Luftverschmutzung, die Kohlekraftwerke verursachen.

Solche Zahlen sind immer nur eine grobe Näherung, weil es schwer ist, Krankheiten exakt einer Ursache zuzuordnen, aber gesund ist dreckige Luft sicher nicht. Hinzu kommen jedes Jahr Tausende verunglückte Minenarbeiter, vor allem in China. Fast könnte man meinen, auf der Kohle laste ein Fluch. Man kann sich durchaus an den Roman "Germinal" erinnert fühlen, wenn man manche Bilder von Robb Kendrick betrachtet: die Dunkelheit und die Gefahr in den Minen, der Dreck, in dem ein chinesischer Bauer sein verrußtes Feld bearbeitet, das Moloch-artige der riesigen Kohle-Terminals. Er wolle bei seiner Arbeit offen sein, nicht urteilen, und vieles einfach hinnehmen, schreibt Kendrick. Aber dieses Mal kam er an seine Grenzen: "Es war mir unmöglich zu sagen 'Das ist okay', als ich in Indiens Kohleland war."

Je schneller das Ende der Kohle-Ära kommt, desto besser. Es hat lange genug gedauert.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: