Umstrittenes Mittel gegen Migräne:Schnitt in die Stirn

Chirurgen durchtrennen bei Patienten bestimmte Muskeln, um deren schwere Migräne zu lindern. Die meisten Migräneexperten halten von der Methode allerdings nichts.

Christina Berndt

Als Schönheitschirurg war der Mann einiges gewohnt. Menschen erzählten ihm unglaublichste Geschichten. Aber eines ließ Bahman Guyuron aufhorchen: Immer wieder bedankten sich Patienten bei dem Plastischen Chirurgen der University of Cleveland, dass sie keine Migräneattacken mehr erlitten, seit er ihnen die Zornesfalten zwischen den Augenbrauen geglättet hatte.

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(Foto: dapd)

Vor gut zehn Jahren begann Guyuron dem systematisch nachzugehen - und im Jahr 2000 stellte er Ergebnisse in einer Fachzeitschrift vor. Sein Fazit: Migräne lässt sich in manchen Fällen einfach wegoperieren.

Inzwischen sind weltweit einige hundert Chirurgen und in den USA auch einzelne Neurologen überzeugt, dass gezielte Schnitte durch Muskeln oder Nerven manchen Menschen mit schwerster Migräne helfen können. Und zwar für lange Zeit, wie eine neue Studie mit wenigen Teilnehmern nahelegt (Plastic and Reconstructive Surgery, Februar 2011).

In der Studie hat Guyuron 69 Patienten befragt, die er fünf Jahre zuvor operiert hatte. Bei 20 war der Kopfschmerz immer noch verschwunden, bei weiteren 41 Patienten trat er seltener und schwächer auf als vor der Operation. Sie litten im Durchschnitt nur noch viermal statt elfmal im Monat an einer Attacke, die dann nur acht statt 34 Stunden dauerte.

In den USA werden mittlerweile in jeder Großstadt Operationen gegen Migräne vorgenommen. In Berlin hat Thomas Muehlberger ein Migräne-Chirurgie-Zentrum eröffnet und mehr als 500 Patienten operiert. "Wir machen nichts Sensationelles", sagt der Plastische Chirurg. "Das Geheimnis unseres Erfolgs ist die sorgfältige Auswahl der Patienten." Nur wenige kommen für die Operation in Frage: Zunächst muss die Diagnose Migräne feststehen, Patienten müssen einen langen Leidensweg hinter sich haben.

Eine Migräne gilt unter Befürwortern der Technik aber nur dann als operabel, wenn sie an einem von drei so genannten Triggerpunkten an Stirn, Schläfen oder Nacken ihren Ausgang nimmt. Hier, so vermuten die Chirurgen, drücken Muskeln auf Nervenäste und verursachen den Schmerz. Alles, was vom Gehirn gesteuert wird, kann von der Migräne betroffen sein. Patienten ist oft schlecht, sie erleiden Durchfall und Erbrechen, häufig empfinden sie Licht, Geräusche oder Gerüche als unerträglich.

Vor der Operation soll ein Test zeigen, bei wem das Skalpell in Frage kommt. Dazu spritzt Muehlberger Botox in Stirn, Schläfe oder Nacken - je nachdem, wo die Attacken des Patienten beginnen. Die entsprechenden Muskeln erschlaffen, der Druck auf die Nerven lässt nach.

Nur wenn sich die Migräne durch die Botox-Behandlung "dramatisch verbessert", wie Muehlberger sagt, legt er die Muskeln oder Nervenäste dauerhaft lahm. "Im Grunde genommen ist die Operation der langweilige Teil", sagt er. "Ich habe schließlich vorher getestet, wie der Patient auf die Druckentlastung reagiert." Das erkläre auch die hohe Erfolgsquote der Methode.

Weniger glücklich als viele Patienten sind die meisten Migräneexperten über ihre Konkurrenten mit dem Skalpell. "Ich halte von der Methode gar nichts", sagt Andreas Straube, Neurologe am Münchner Klinikum Großhadern. Schon das Erklärungsmodell von den unter Druck stehenden Nerven hält er für unsinnig.

Und die bisher von den Migränechirurgen vorgelegten Studien seien von so schlechter Qualität, dass sie keinesfalls als Beleg für die Wirksamkeit gelten könnten. Die Erfolge hält der Neurologe für einen Placeboeffekt. Durch den vorangegangenen Botox-Test würden jene Patienten selektiert, die gut auf ein sinnloses Verfahren ansprechen.

An der Einschätzung, die die meisten Neurologen teilen, ändert auch die Langzeitstudie aus den USA nichts. Es sei nicht so, dass Placeboeffekte immer binnen weniger Monate nachließen, sagt Charly Gaul, Neurologe am Westdeutschen Kopfschmerzzentrum Essen. Es gebe Hinweise auf jahrelange Placeboeffekte.

Zweifelsohne kommen bei der Migränechirurgie mehrere Faktoren zusammen, die die Hoffnung der Patienten beflügeln und so eine Placebowirkung hervorrufen können. Üblicherweise bessern sich in Studien mit Tabletten bei 20 Prozent der Patienten die Kopfschmerzen, selbst wenn die Pillen nur Zucker enthalten.

Operationen aber sind mehr als alle anderen ärztlichen Maßnahmen dazu geeignet, Patienten die Gewissheit zu vermitteln, es müsse ihnen danach besser gehen. Die suggestive Kraft chirurgischer Verfahren sei viereinhalbmal so groß wie die von Tabletten, sagt Gaul. Somit könnten sogar die Besserungsraten von über 80 Prozent, von denen die Migränechirurgen berichten, ein Placeboeffekt sein. Hinzu kommt, dass die Einbildung umso stärker wirkt, wenn Patienten zahlen müssen. Die Migräneoperation kostet rund 3500 Euro, für die Krankenkassen nur im Ausnahmefall aufkommen.

Die Vorwürfe, er operiere nur am Glauben seiner Patienten, hat Guyuron mit einer Studie zu entkräften versucht, die wiederum Medizinethikern Falten auf die Stirn treibt: 50 Migränepatienten operierte Guyuron in der Studie tatsächlich, 26 andere nur zum Schein: Diesen schlitzte er die Kopfhaut auf und nähte sie wieder zusammen (Plastic and Reconstructive Surgery, Bd. 124, S. 461, 2009). Weder Ärzte noch Patienten wussten, wer nur zum Schein operiert wurde.

Skepsis unter deutschen Neurologen

Nach zwölf Monaten sagten 57 Prozent der operierten Patienten, sie hätten überhaupt keine Beschwerden mehr. In der Placebogruppe war dies nur bei einem Patienten der Fall. Bei 42 der operierten Patienten verringerten sich die Beschwerden um mehr als die Hälfte, aber nur bei 15 der zum Schein Operierten. "Das ist ein fantastisches Ergebnis", lobte der Neurologe Richard Lipton, Direktor des Montefiore Headache Center in New York.

Deutsche Neurologen sind trotzdem nicht überzeugt, allein schon weil der Effekt in der Placebogruppe riesig war. Weshalb nach der echten Operation aber tatsächlich noch sehr viel mehr Patienten Linderung erfahren haben als nach dem Scheineingriff, können sie nur vermuten: Womöglich würden die Patienten häufig doch merken, wenn bei ihnen Muskeln gelähmt oder Nerven verletzt wurden, meint Gaul. Umso mehr würden diese Patienten an den Erfolg der Behandlung glauben, umso besser wäre bei ihnen die Wirkung.

Straube und Gaul raten ihren Migränepatienten von einem operativen Eingriff ab. Die Migräne sei eine hochkomplexe Erkrankung, die bis heute nicht wirklich verstanden sei. Medikamente könnten die Patienten jederzeit absetzen, wenn sie schwere Nebenwirkungen verursachen; doch eine Operation lasse sich nicht rückgängig machen, sollte es Komplikationen geben. Straube fragt sich auch, warum die Plastischen Chirurgen ihren Patienten nicht dauerhaft Botox geben, statt zu operieren. "Da machen sie wenigstens nichts kaputt", sagt er.

Guyuron fühlt sich zu Unrecht angegriffen. Er meint, mit ihrer Skepsis wollten die Neurologen nur ihre Pfründe verteidigen.

Derweil mehren sich die Körperstellen, an denen Chirurgen das Messer ansetzen. Das Team um Guyuron entfernt nun auch die untere Nasenmuschel, um Migräne zu behandeln. Ärzte vom Miriam Hospital in Rhode Island berichten, wie sie schwer übergewichtigen Migränepatienten einen Magenbypass gelegt oder den Magen mit einem Band verkleinert haben (Neurology, Bd. 76, S. 1135, 2011). Nach sechs Monaten hatte die Hälfte der Patienten nicht nur Gewicht verloren, auch ihre Migräne hatte sich gebessert.

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