Überteuerte Medikamente:Dreiste Augenwischerei

Die Geschichte klingt fast zu dreist, um wahr zu sein: Pharmafirmen setzen ein teures Mittel gegen Erblindung durch, obwohl sich eine günstigere Alternative bewährt hat.

Werner Bartens

Man muss fast so blind sein, wie im Endstadium der Krankheit, um die es hier geht, um nicht zu bemerken, wie Patienten, Gesetzgeber und Ärzte hinters Licht geführt werden.

Überteuerte Medikamente: Die Herstellerfirma von Avastin, nennen wir sie zunächst Novartis . . .

Die Herstellerfirma von Avastin, nennen wir sie zunächst Novartis . . .

(Foto: Foto: AP)

Dabei klingt die Geschichte fast zu dreist, um wahr zu sein. Sie zeigt, welche absurden Blüten das deutsche Gesundheitswesen erlaubt und auf welch lukrative Geschäftsmodelle Pharmafirmen kommen können, wenn man sie nur lässt.

Die einfache Variante der Geschichte geht so: Durch Zufall entdeckte ein amerikanischer Augenarzt im Jahr 2000, dass die bewährte Krebsarznei Avastin nicht nur gegen Tumore, sondern auch gegen ein häufiges Augenleiden hilft.

Das Mittel, das ursprünglich zur Therapie von Darmkrebs entwickelt wurde, bekamen deshalb - in niedrigerer Dosis - auch Augenkranke verabreicht. Das Medikament half, Patienten waren zufrieden, Ärzte auch.

In Windeseile sprach sich die neue Behandlungsform herum, sodass mittlerweile mindestens 100.000 Menschen weltweit Avastin ins Auge gespritzt bekommen haben. Etwa 25 Euro kostet eine Behandlung. Eine Zulassung als Augenheilmittel beantragte der Hersteller allerdings nicht - und das sollte sich im Wortsinn später auszahlen.

Das Leid bestimmt den Preis

Die Herstellerfirma von Avastin, nennen wir sie zunächst Novartis, veränderte die Chemie des Wirkstoffs minimal. Das reichte, um das Mittel fortan Lucentis zu nennen. Da niemand in Deutschland vorschreiben kann, wie teuer Medikamente sein dürfen, setzte die Firma den Preis des neuen Mittels, das eigentlich das alte ist, auf 1500 Euro fest - für eine Einzeldosis. Zehn Injektionen, so die Einschätzung von Augenärzten, sind nötig, um das Leiden zu stoppen oder sogar besseres Sehen zu ermöglichen.

Die Zulassung für Lucentis wurde sofort beantragt, um mit dem neuen alten Mittel die Augenkrankheit behandeln zu können, die schon mit Avastin kuriert werden konnte. Da Lucentis so wirkt wie Avastin, half es ähnlich gut gegen das Augenleiden.

Da Lucentis in Deutschland seit Januar 2007 für die Therapie zugelassen ist, darf Avastin nun offiziell nicht mehr "off-label", wie eine Verwendung ohne Zulassung heißt, gegeben werden. Deshalb verdient die Pharmafirma mit der Lucentis-Therapie 60-mal so viel pro Behandlung wie zuvor mit Avastin.

Das Augenleiden, um das es geht, bezeichnen Ärzte als altersabhängige Makuladegeneration (AMD). Dabei wird der Bereich des schärfsten Sehens in der Netzhaut zerstört. Das Blickfeld der Betroffenen ist in der Mitte verschwommen, nur an den Rändern ist etwas zu erkennen. Die Krankheit entsteht, weil Blutgefäße sich bilden, wo sie nicht hingehören und hinter der Netzhaut einwachsen, wo das schärfste Bild entsteht.

"Ein riesiger Skandal"

In den Glaskörper gespritzt, verhindern Lucentis wie Avastin, dass sich neue Adern bilden. Beide Substanzen sind Antikörper gegen einen Wachstumsfaktor für Blutgefäße, der VEGF abgekürzt wird. VEGF stimuliert das Gefäßwachstum und lässt Arterien aussprossen. Experten schätzen, dass 480.000 Menschen in Deutschland von AMD betroffen sein könnten. Hochgerechnet würde die Lucentis-Therapie die Krankenkassen bis zu sieben Milliarden Euro jährlich kosten - und alle Budgets sprengen. Derzeit geben die gesetzlichen Kassen im Jahr 25 Milliarden Euro für alle Arzneimittel zusammen aus.

"Es ist ein riesiger Skandal, dass eine solche Preistreiberei durch Absprachen zwischen den Firmen möglich ist", sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. "Es muss Strukturen geben, die den Vergleich der beiden Mittel erzwingen - aber die Lobbyarbeit der Pharmaindustrie steht dem wohl entgegen." In Italien sind Pharmaunternehmen dazu verpflichtet, fünf Prozent ihrer Marketingausgaben in einen unabhängigen Fonds zu geben, der sinnvolle Arzneimittelstudien damit initiiert.

Ein Vergleich von Avastin und Lucentis wäre dringend nötig. "Es ist fraglich, ob die minimale Molekülveränderung wirklich etwas bewirkt", sagt Ludwig. Diese chemische Abwandlung sei "mit lächerlich wenig Aufwand möglich", sagt Bernd Mühlbauer, Direktor der Pharmakologie am Klinikum Bremen-Mitte. "Im Labor bekommt man das in 14 Tagen hin."

Zudem sei es möglich, dass Avastin nicht nur günstiger, sondern auch besser ist. Schließlich verfügt es über zwei Bindungsstellen zur VEGF- Blockade - Lucentis besitzt nur eine. Selbst wenn beide Mittel ähnlich wirken, könnte Avastin besser für die Patienten sein: Es wirkt länger, deshalb ist die lästige Spritze ins Auge seltener nötig.

Dreiste Augenwischerei

Wie viel ist ein Jahr besseres Sehen wert?

Mühlbauer hat von Novartis-Mitarbeitern erfahren, wie der Preis für Lucentis kalkuliert wurde: Darmkrebs mit Hilfe von Avastin ein Jahr länger überleben zu können, verursache - wegen der höheren Dosis und häufigeren Anwendung - etwa 60.000 Euro Therapiekosten. Wie viel ist ein Jahr besseres Sehen wert? Ein Viertel? "So ist man auf etwa 15.000 Euro pro Jahr gekommen", sagt Mühlbauer. Geteilt durch zehn Injektionen komme man auf etwa 1500 Euro pro Spritze.

"Zuerst wird geschaut, wie viel Angst ein Leiden erzeugt - das bestimmt dann den Preis für die Therapie", sagt Till Spiro, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Bremen. Im Deutschen Ärzteblatt kritisierte er das Verhalten von Novartis als "Luc(ifer)entis". "Novartis war schlecht beraten, darauf zu beharren, dass nur Lucentis verschrieben werden darf", sagt Spiro heute.

"Wie leicht wäre es für das Unternehmen gewesen, eine Vergleichsstudie anzustoßen." So sei der Imageverlust unter Ärzten und in der Öffentlichkeit kaum abzuschätzen. Die deutsche Niederlassung von Novartis in Nürnberg reagiert ausweichend - und nur per E-Mail.

Auf die Frage nach einem möglichen Vorteil von Lucentis gegenüber Avastin werden Behauptungen aufgestellt, die nicht in Vergleichsstudien überprüft worden sind. Auf die Frage nach einer Vergleichsstudie heißt es, diese sei "nicht gleichbedeutend mit einer Zulassungsstudie".

In den USA hat sich der Hersteller von Lucentis bereits selbst geschadet. Das Pharmaunternehmen wollte Apotheken, die an Augenärzten Avastin abgegeben hatten, nicht mehr beliefern. "Es gab Listen im Netz, welche Präparate von Novartis man gegen günstigere austauschen konnte", sagt Pharmakologe Mühlbauer. "Wäre das befolgt worden, vom Weltumsatz der Firma wären vielleicht 30 Prozent übrig geblieben."

Politische Abhilfe ist nicht in Sicht. Das deutsche Gesundheitssystem zeigt seine absurde Seite. Niemand kann einer Pharmafirma vorschreiben, Arzneien billiger zu machen. Ebenso wenig kann der Hersteller verpflichtet werden, eine Zulassung für Avastin zu beantragen und die preisgünstigere Alternative anzubieten. Diese steht Ärzten seit der Zulassung von Lucentis im Januar nur noch bedingt offen.

"Misstrauischer gegenüber den Pharmafirmen"

Off-label-Gebrauch gestattet das Bundessozialgesetz, wenn es sich a) um schwere Leiden handelt, b) kein anderes zugelassenes Medikament zur Verfügung steht und c) Ärzte sich einig sind, dass die Arznei wirkt. Für Avastin trafen die Voraussetzungen zu - seit Lucentis zugelassen ist, gilt Punkt b) nicht mehr.

Pharmakologe Mühlbauer plant eine Vergleichsstudie beider Mittel und hat sich schon mit Avastin-Vorräten eingedeckt, um einer möglichen Blockade der Firma zu entgehen. "Wir wollen endlich wissen, was die bessere Arznei ist", erregt sich Mühlbauer. "Wir sind keine Erfüllungsgehilfen der Kassen oder der Politik, sondern machen das für die Patienten." Diese Fürsorgepflicht hätte eigentlich der Gesetzgeber.

"Die Situation ist unverändert", sagt Ina Klaus vom Gesundheitsministerium. "Wir können das Mittel nicht zulassen. Es gibt aber keine Regel, die untersagt, dass Avastin weiter verordnet wird." Zudem würden einige Kassen die Kosten für Avastin erstatten.

Tatsächlich ist die Geschichte noch etwas komplizierter. Die Firma, die Avastin wie Lucentis entwickelt hat und beide Patente hält, heißt Genentech und ist eine Tochter von Roche, die wiederum zu mehr als 30 Prozent Novartis gehört. Roche hat die Testung und Vermarktung von Avastin übernommen, Novartis die von Lucentis.

Till Spiro gewinnt der Lucentis-Affäre mittlerweile eine gute Seite ab: "Ärzte und Politiker sind viel misstrauischer gegenüber den Machenschaften der Pharmafirmen geworden", sagt der Mediziner.

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