Geowissenschaft:Was das Erdbeben in der Türkei für Kalifornien bedeuten könnte

Geowissenschaft: Überall Zerstörung: Die türkische Stadt Adiyaman, drei Wochen nach dem Beben.

Überall Zerstörung: Die türkische Stadt Adiyaman, drei Wochen nach dem Beben.

(Foto: IMAGO/Abed Alrahman Alkahlout/IMAGO/ZUMA Wire)

Forscher versuchen, Lehren aus den katastrophalen Beben zu ziehen - um besser vorbereitet zu sein für zukünftige Erdbeben, wie sie etwa nahe Istanbul oder Los Angeles drohen.

Von Benjamin von Brackel

Diejenigen, die ins Erdbebengebiet in die Türkei und nach Syrien reisen, um zu helfen, treffen auf eine Region, die aus den Fugen geraten ist. Alles Mögliche ist zerbrochen, zerquetscht oder hat sich auf groteske Weise verschoben. Die Verletzungen sind überall: in der Landschaft, an den Gebäuden und natürlich an den Menschen. Es ist ein Albtraum.

Ärzte versuchen, Tausende Arm- und Beinbrüche, Quetschungen, Organversagen und Blutungen zu behandeln. Ingenieure gehen von Haus zu Haus, um Gebäude zu prüfen, die nicht umgekippt oder in sich zusammengefallen sind, sondern nur Risse aufweisen oder verzogen sind. Oft nur mit Hämmern und den bloßen Augen entscheiden sie, ob sie sicher genug sind, damit ihre Bewohner zurückkehren können. Und dann sind da noch die Geowissenschaftler. Sie finden eine veränderte Landschaft vor: Innerhalb von Sekunden sind Gräben aufgerissen, sie klaffen heute an manchen Stellen mehrere Hundert Meter breit und tief. Olivenhaine wurden wie von mächtiger Hand zerteilt, Straßen um mehrere Meter versetzt, weshalb das eine Ende nicht mehr zum anderen passen will.

Aus aller Welt studieren Seismologen, Geomorphologen und Tektoniker das Erdbeben vom 6. Februar samt seinen Tausenden Nachbeben. Sie sammeln Daten mithilfe von Seismometern und Satellitenmessungen, um aus der Tragödie - mehr als 50 000 Tote, fünf Millionen Menschen mussten ihr Zuhause verlassen - zu lernen und für kommende Beben besser gewappnet zu sein, wie sie etwa vor Istanbul oder Los Angeles erwartet werden. "Die dramatischen Auswirkungen sind eine klare Warnung für weitere seismische Hochrisikogebiete in der Türkei und darüber hinaus", sagt Marco Bohnhoff vom Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam.

Wie konnte es kurz nacheinander zu zwei fast gleich starken Beben kommen?

Keine zwei Wochen nach dem Beben hat ein Forscherteam aus der Türkei, Griechenland und den USA bereits eine erste Studie auf dem Preprint-Server EarthArXiv veröffentlicht, deren Begutachtung noch aussteht. Darin haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Hergang des Erdbebens rekonstruiert. Demnach hatte das erste große Beben der Magnitude 7,8 seinen Ursprung in einer Verwerfung, die bis dahin noch gar nicht kartiert worden war. Erst dann sprang es auf die ostanatolische Verwerfung über, die auf einer Länge von 350 Kilometern durchbrach.

Auch scheint das Rätsel gelöst zu sein, wie es nicht einmal einen Tag nach dem Hauptbeben mit der Magnitude 7,8 zu einem mit Magnitude 7,6 fast genauso starken Beben weiter nördlich kommen konnte. Eigentlich ist zu erwarten, dass Nachbeben in ihrer Magnitude um etwa eine Größenordnung abnehmen. Demnach sollte einem 7,8-Hauptbeben eher ein 6,8-Nachbeben folgen. Das zweite große Beben könnte aber ein separates Beben auf einer separaten Verwerfung gewesen sein - der sogenannten Sürgü-Verwerfung. Dort habe sich die tektonische Energie bereits vorher angestaut, erklärt Bohnhoff. Berechnungen würden aber zeigen, dass das erste große Beben Spannungen umgelagert und damit den "seismischen Zyklus" der Sürgü-Verwerfung beschleunigt habe. "Das zweite Beben wäre ohnehin aufgetreten", sagt der Geophysiker. "Nur später."

Könnten solche Spannungsverlagerungen auch ein schweres Erdbeben nahe Istanbul lostreten, das Geowissenschaftler dort für die nahe Zukunft erwarten? Schließlich grenzt die dortige nordanatolische Verwerfung an ihrem östlichen Ende fast ans nördliche Ende der ostanatolischen Verwerfung. "Erste Ergebnisse zeigen, dass die jüngsten Erdbeben nicht nah genug an der nordanatolischen Störung sind, um das Stressfeld dort maßgeblich zu verändern", sagt die Geologin Derya Guerer von der Universität von Queensland in Brisbane.

Trotzdem könnten gerade die verwinkelten Pfade der Erdbeben Lehren für andere Gefahrenzonen bereithalten. Denn egal ob Kahramanmaraş, Istanbul oder San Francisco - alle liegen an vergleichbaren Verwerfungen, an denen sich zwei tektonische Platten seitlich aneinander verschieben, sich dabei verhaken und verformen, bis die Spannung so groß ist, dass sie die Stärke des Gesteins übersteigt. Dann entlädt sich die aufgestaute Energie in einem Ruck. Die Erdbeben in der Türkei und in Syrien veranlassen US-Geologen nun zur Prüfung, ob sich ein ähnlich starkes Erdbeben ebenfalls in einem der Seitenäste der San-Andreas-Verwerfung ereignen könnte, wie die New York Times berichtet. In dessen südlichem Abschnitt hat sich seit dem Jahr 1857 kein schweres Erdbeben mehr ereignet. Und dort gibt es auch zahlreiche Nebenverwerfungen.

Doch nur zu wissen, wo ein schweres Erdbeben in naher Zukunft lauert, hilft nichts, wenn Stadtplaner und Einwohner sich das nicht zu Herzen nehmen. Bohnhoff sieht die zentrale Lektion für Istanbul und andere Millionenstädte in seismischen Hochrisikogebieten deshalb eher darin, möglichst schnell Häuser und Infrastruktur umzubauen und bei Neubauten die Bauvorschriften einzuhalten. Das sei eine zwar finanziell und logistisch extrem anspruchsvolle, aber unvermeidbare Aufgabe. Schließlich sind es nicht Erdbeben, welche die Menschen umbringen, sondern Gebäude, die den Beben nicht standhalten.

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