Am 26. April 1986 explodierte der vierte Reaktorblock von Tschernobyl nördlich von Kiew. 35 Jahre später sind die Aufräumarbeiten noch immer in vollem Gange, unter einer neuen Hülle wird der havarierte Reaktor Stück für Stück auseinandergebaut und sein Kernbrennstoff geborgen. Ein Gebiet von 2600 Quadratkilometern wurde zur Sperrzone. Martin Steiner ist Radioökologe am Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) und beschäftigt sich mit den langfristigen Folgen der Radioaktivität für Mensch und Umwelt.
SZ: Wenn man heute Bilder von der Atomruine rund um Tschernobyl sieht, fällt schnell die dichte Vegetation auf, die sich entwickelt hat. Auch viele Tiere sind offenbar zurückgekehrt, Hunde, Wölfe, sogar Elche wurden gesichtet. Was sagt das über die Strahlenbelastung rund um den Unglücksreaktor?
Martin Steiner: Aufgrund der Halbwertszeit kurzlebiger Radionuklide hat die Strahlenbelastung sicher abgenommen. Manche Experten betonen aber, dass die Strahlung immer noch ein Stressfaktor für Tiere ist, die in der weiteren Umgebung um Tschernobyl leben. Andere sagen, dass die Abwesenheit des Menschen viel positivere Effekte für die belebte Umwelt hat.
Wird sich diese Frage irgendwann klären lassen?
Die Abwesenheit des Menschen kann man als Faktor schlecht herausrechnen. Bei den wissenschaftlichen Untersuchungen gab es in der Vergangenheit auch sehr oft Probleme mit der Dosimetrie, also der genauen Strahlenmenge. Es nützt ja nichts, allein negative Folgen festzustellen. Wichtig ist auch, eine sehr genaue Vorstellung von der Strahlenbelastung der Tiere zu haben, um zu verstehen, wie diese mit den negativen Folgen zusammenhängt.
Dennoch kursieren Vergleiche, wonach man schon bei einem Transatlantikflug einer höheren Strahlenexposition ausgesetzt ist, als wenn man sich in der Sperrzone rund um Tschernobyl aufhält. Was ist von solchen Vergleichen zu halten?
Diese Vergleiche sind zumindest problematisch, weil die Ortsdosisleistung in der Umgebung von Tschernobyl extrem unterschiedlich ist. Wann immer man nur eine Zahl liest, etwa 2,5 Mikrosievert pro Stunde, handelt es sich um eine extreme Vereinfachung. Es gibt auch Bereiche in der näheren Umgebung um Tschernobyl mit 200 Mikrosievert pro Stunde und mehr. Außerdem spielt es eine große Rolle, wie lange man dieser Strahlung ausgesetzt ist. Auch Gebiete mit einer nicht so extremen Ortsdosisleistung wären daher ungeeignet für eine dauerhafte Besiedlung.
Die Regionen rund um den Reaktor in der Ukraine, Belarus und Russland waren 1986 am stärksten vom radioaktiven Fallout betroffen, Hunderttausende Menschen wurden aus einem 30-Kilometer-Radius in Sicherheit gebracht. In der weiteren Umgebung leben aber auch heute noch Millionen Menschen. Welchem Risiko sind sie noch ausgesetzt?
Für die Strahlenbelastung in der weiteren Umgebung um den Reaktor ist vor allem Cäsium-137 maßgebend. Kurzlebige Radionuklide, die unmittelbar nach dem Reaktorunfall eine große Rolle spielten, wie zum Beispiel Jod-131, sind heute abgeklungen. Je mehr Cäsium-137 sich an einem bestimmten Ort befindet, umso größer ist potenziell die Gefährdung der Bevölkerung. In unmittelbarer Nähe des Reaktors können auch noch die sogenannten Transurane sehr gefährlich sein. Diese Alpha-Strahler können bei trockenen Witterungsbedingungen aufgewirbelt werden und mit der Atemluft in den menschlichen Körper gelangen.
Schlägt sich das auch beispielsweise in höheren Krebsraten nieder?
Es gab nach Tschernobyl eine Zunahme von Schilddrüsenkrebserkrankungen, vor allem bei Personen, die zum Zeitpunkt des Unfalls noch Kinder oder Jugendliche waren. Das ist eindeutig abgesichert. Es wird auch von anderen Tumoren oder der Zunahme von Leukämien berichtet, aber für diese Untersuchungen gibt es nicht genügend Belege. Vor allem der Einfluss anderer Faktoren wird da nicht hinreichend berücksichtigt.
Der Atomreaktor selbst ist nun unter einem riesigen neuen Sarkophag verborgen. Was geht im Inneren vor sich?
Der alte Sarkophag ist relativ brüchig. Das war auch der Grund, warum sich die G-7-Staaten, die EU und die Ukraine auf den "Shelter Implementation Plan" geeinigt haben. Es wurde ein neuer Sarkophag errichtet, das "New Safe Confinement". Den kann man sich vorstellen wie eine halbe Tonne, die 110 Meter hoch ist und 165 Meter lang, mit einer Spannweite von 260 Metern. Dieses New Safe Confinement wurde über den alten Sarkophag geschoben. Das Ziel ist, langfristig die instabilen Teile des alten Sarkophags abzubauen, das kernbrennstoffhaltige Material zu bergen und dann sicher endzulagern. Das ist ein langer Weg.
Die Ukraine ist gerade alles andere als eine stabile Region, im Osten des Landes wird wieder gekämpft. Gute Voraussetzungen für so eine Mammutaufgabe?
Dass bewaffnete Konflikte in der Ukraine alles andere als die optimale Voraussetzung sind, ist vollkommen klar. Momentan sieht es aber danach aus, dass die Sicherungsmaßnahmen nicht beeinträchtigt sind.
Von der Kernschmelze im April 1986 war auch Westeuropa betroffen, vor allem in Süddeutschland ging radioaktiver Fallout nieder. Trotzdem stritt der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann Gefahren für Bundesbürger zunächst ab, nur im Umkreis von 30 bis 50 Kilometer um den Reaktor gebe es Risiken. Was würde man heute anders machen im Fall so einer Katastrophe?
Damals waren Strahlenschutzkompetenzen noch nicht so gebündelt, heute ist der Notfallschutz ganz anders aufgestellt. Streng genommen war die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl der Auslöser für die Gründung des Bundesamtes für Strahlenschutz.
Wie würden die ersten Stunden, Tagen und Wochen aussehen, wenn wieder eine Kernschmelze im Umfeld von Deutschland passieren würde?
Selbst wenn keine radioaktiven Stoffe freigesetzt wären, würde das Bundesamt für Strahlenschutz berechnen, welche Gebiete Deutschlands aufgrund der meteorologischen Situation betroffen sein könnten, und möglichst frühzeitig Gegenmaßnahmen vorschlagen. Das reicht von der Empfehlung, im Haus zu verbleiben, bis zur Einnahme hochdosierter Jodtabletten, zur sogenannten Jodblockade der Schilddrüse. Diese Maßnahmen sind aber nicht für jeden Unfall genau die gleichen. Das hängt von den prognostizierten Kontaminationen und Strahlenexpositionen ab. Wenn man unnötig hochdosierte Jodtabletten zu sich nimmt, dann würde man möglicherweise negative gesundheitliche Folgen auslösen, ohne überhaupt die Strahlenexposition zu verringern.
In Deutschland waren nach dem Unfall ja vor allem Pilze und Wild belastet. Muss man da heute immer noch aufpassen?
Das Problem ist vielschichtig. Lebensmittel aus landwirtschaftlicher Produktion sind in Deutschland vollkommen unbedenklich, die radioaktive Belastung ist hier extrem gering. Pilze und Wildbret aus stärker belasteten Gebieten können tatsächlich erhöhte Werte von Cäsium-137 aufweisen. Das betrifft etwa Semmel-Stoppelpilze, Maronenröhrlinge oder Trompetenpfifferlinge, um mal ein paar bekannte Speisepilze zu nennen. Diese können durchaus Aktivitäten von mehr als 1000 Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm Frischmasse aufweisen. Bei Wildschweinen sind Spitzenwerte von über 10 000 Becquerel pro Kilogramm zu finden. Wenn Sie Lebensmittel aus dem Handel beziehen, dann greift ein Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm, das heißt, der Verbraucher kann sich darauf verlassen, dass er keine höher belasteten Lebensmittel einkauft. Achtgeben müssen Leute, die selbst Pilze sammeln, oder der Jäger, der selbst Wild erlegt. Denn in diesem Fall greifen Grenzwerte nicht. Wenn Sie selbstgesammelte Pilze oder selbsterlegtes Wild in vernünftigen Mengen verzehren, besteht aber aus Sicht des Strahlenschutzes kein Anlass zur Sorge.
Wieso ist der Wald stärker kontaminiert als Lebensmittel aus landwirtschaftlicher Erzeugung?
Das liegt am unterschiedlichen Bodenaufbau. Auf landwirtschaftlichen Flächen gibt es Tonminerale, die Cäsium sehr stark binden können. Das heißt, das Cäsium ist nach wie vor da, kann aber von der Pflanze kaum mehr aufgenommen werden. Im Wald ist das aufgrund des anderen Bodenaufbaus ganz anders. Da ist Cäsium in einem Nährstoffkreislauf eingebunden und leichter für Pflanzen verfügbar. Das ist der Grund, warum wir unterschiedliche Kontaminationswerte im landwirtschaftlichen Bereich und im Wald-Ökosystem haben.