Traumatisierte Soldaten:"Insider warten auf den ersten Amoklauf"

Psychiater kritisieren die Erstversorgung traumatisierter Soldaten - denn die Bundeswehr beharrt auf einer veralteten Methode.

C. Weber und L. Vöhringer

Autobombe in Kabul, Feuergefecht in den Bergen, Selbstmordanschlag am Kasernentor: Immer wenn es knallt bei Einsätzen der Bundeswehr, folgt die Gruppentherapie.

Traumatisierte Soldaten: Welche Folgen Bundeswehreinsätze für die Psyche der Soldaten haben, kann man nicht vorhersehen - denn jeder verarbeitet traumatisierende Erlebnisse unterschiedlich.

Welche Folgen Bundeswehreinsätze für die Psyche der Soldaten haben, kann man nicht vorhersehen - denn jeder verarbeitet traumatisierende Erlebnisse unterschiedlich.

(Foto: Foto: AP)

Die beteiligten Soldaten setzen sich zusammen und besprechen unter Anleitung eines Betreuers, was sie erlebt und vor allem was sie gefühlt haben. So sollen sie das traumatische Erlebnis verarbeiten können und in den Alltag zurückfinden. Doch genau diese Behandlung ist falsch.

"Das Gruppen-Debriefing von Rettungssanitätern und anderen Hilfskräften nach einem Einsatz ist im besten Fall wirkungslos, manchmal schadet es", resümiert der Psychotraumatologe Willi Butollo von der Universität München den Stand der Forschung.

Noch skeptischer sind die Autoren einer soeben veröffentlichten Analyse der Cochrane Collaboration (Issue 3, 2009), die als unabhängiges Gremium für Therapieempfehlungen anerkannt ist. Die Forscher folgern aus elf Studien mit insgesamt 941 Teilnehmern, dass "überhaupt keine psychologische Intervention als Routineverfahren nach traumatischen Erfahrungen empfohlen werden kann".

Unerträgliche Erfahrungen

Das wirft die Frage auf, warum bei der Bundeswehr noch immer das "Critical Incident Stress Management" (CISM) nach Jeffrey Mitchell und George Everly angewendet wird. So heißt ein Verfahren, das Mitte der 1980er Jahre populär wurde, aber heute unter Psychiatern als völlig überholt gilt.

Wenn Opfer oder Zeugen eines traumatischen Ereignisses unmittelbar nach einem Ereignis in einer Gruppe ihren Emotionen freie Bahn geben sollen, dann kann das bei vielen Menschen erst recht Wunden in die Seele schlagen und zu Retraumatisierungen führen.

Spätestens seit dem Engagement der Bundeswehr in Afghanistan erkranken zunehmend viele Soldaten nach Kampferfahrungen an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). So heißt ein Krankheitsbild, das entstehen kann, wenn Menschen mehr schreckliche Dinge erleben, als ihr Gehirn verarbeiten kann: Leichengeruch und verstümmelte Körper, der Anblick sterbender Kinder und gefallener Kameraden.

Allein die Lebensgefahr führt bei manchen Soldaten zu psychischen Störungen, die meist nach drei bis sechs Monaten, manchmal erst nach Jahren auftreten.

Nachhallende Erinnerungen

Nach dem üblichen Diagnosekatalog wird eine PTBS diagnostiziert, wenn die Betroffenen über längere Zeit unter Albträumen und nachhallenden Erinnerungen - Flashbacks - leiden und teilnahmlos gegenüber ihrer Umgebung werden. Zugleich sind sie übererregt, schreckhaft und schlafgestört. Viele werden süchtig oder depressiv.

Noch 2006 diagnostizierten die Ärzte der Bundeswehrkrankenhäuser gerade mal 83 PTBS-Fälle. Im vergangenen Jahr waren es bereits 245 Fälle, und "die Zahlen werden weiter steigen", vermutet Oberfeldarzt Peter Zimmermann vom Bundeswehrkrankenhaus Berlin. Nachdem die ARD im Februar in dem Fernsehfilm "Willkommen zu Hause" die PTBS von Afghanistan-Soldaten thematisierte, äußerte sich sogar Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) dazu.

Unerkannte Traumata bei Soldaten

Seine Rede vor dem Bundestag zeugt allerdings von einer gewissen Chuzpe: Die Tatsache, dass nur bei einem Prozent der deutschen Soldaten im Auslandseinsatz PTBS diagnostiziert wurde, zeige laut Jung, dass "wir im internationalen Vergleich recht gut liegen". Tatsächlich jedoch lässt diese Zahl auf eine hohe Dunkelziffer schließen.

"Bei Peacekeeping-Missionen wie in Afghanistan sind fünf bis acht Prozent PTBS-Fälle üblich", weiß Bundeswehr-Psychiater Zimmermann, "so ähnlich könnte es bei unseren Truppen sein." Er verweist auf eine Studie im New England Journal of Medicine, wonach im Irakkrieg sogar bis zu 17 Prozent der Soldaten eine PTBS entwickelten. "Die Prävalenz hängt unter anderem vom Härtegrad des Einsatzes ab", sagt Zimmermann.

Stabilität als Karrierekriterium

Zwar tut die Bundeswehr ihr Bestes, um Betroffene mit anonymen Telefon-Angeboten und Email-Adressen zum seelischen Outing zu bewegen. Doch das Problem der Unterdiagnostik bleibt. "Jeder Berufssoldat wird sich davor hüten, sich zu einer PTBS zu bekennen - psychische Stabilität ist ein wichtiges Kriterium für die Karriere", sagt Heinz Sonnenstrahl, Hauptmann a.D. und Gründer der PTBS-Selbsthilfegruppe "Skarabäus".

Für besonders gefährdet hält er Zeitsoldaten, die erst Jahre nach ihrer Bundeswehrzeit eine Störung entwickeln. "Wenn man überlegt, wie viele Leute seit 1996 im Auslandseinsatz waren, muss es eine Unzahl von unerkannten PTBS-Fällen in Deutschland geben", warnt Sonnenstrahl. "Insider warten auf den ersten Amoklauf."

Immerhin erkennen auch zivile Fachleute, dass die Bundeswehr einmal diagnostizierte PTBS-Fälle ordentlich behandelt. Zwar stoßen die Bundeswehrkrankenhäuser langsam an die Grenzen und nur gut die Hälfte der 40 Psychiaterstellen sind derzeit besetzt, aber die dort üblichen Verfahren wie etwa die kognitive Verhaltenstherapie gelten als fundiert. Nur bei der Erstversorgung unmittelbar nach schweren Einsätzen hält die Bundeswehr an einer Variante der längst überholten CISM-Methode fest.

"Bei uns ist CISM Teil eines Gesamtkonzeptes", verteidigt Oberstabsarzt Zimmermann das Verfahren. Die Betreuer vor Ort hätten "Augenmaß und Erfahrung" und gingen flexibel auf den Einzelnen ein. Sie würden nicht mehr wie früher versuchen, möglichst extreme Emotionen in der Gruppe hervorzulocken.

Zivile Psychiater sind jedoch skeptisch. "Gruppengespräche nach einem potenziell traumatisierenden Ereignis sind prinzipiell kontraindiziert", sagt Robert Bering, Leitender Arzt im Zentrum für Psychotraumatologie des Alexianer-Krankenhauses in Krefeld. In der Gruppe sei nur Psychoedukation angebracht, also etwa die Aufklärung über drohende Symptome.

Einfach mal den Mund halten

Bering wundert sich, wie sich CISM in der Truppe halten kann, schließlich hat er selbst vor einigen Jahren noch als Mitarbeiter des Kölner Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie im Auftrag des Bundesministeriums für Verteidigung ein neues Betreuungsmodell entwickelt, das die Erkenntnisse der modernen Psychotraumatologie berücksichtigt: Menschen verarbeiten traumatischen Stress unterschiedlich gut - und manchmal sollten Psychologen einfach mal den Mund halten.

"In der Akutphase der ersten 48 Stunden sollte man auf jede therapeutische Intervention verzichten", sagt Bering. "Es reicht zu stabilisieren - mit Essen, Wärme, Kontakt."

Drei bis vier Tage nach dem Ereignis werden die Betroffenen mit Hilfe eines Fragebogens in drei Gruppen eingeteilt, die erfahrungsgemäß ähnlich groß sind: Die "Selbstheiler" können ihre Erfahrungen mit eigenen Ressourcen bewältigen; die "Risikogruppe" braucht in der Regel therapeutische Unterstützung; die "Wechsler" sind gefährdet, wenn später weitere Störfaktoren hinzukommen. Sie sollten nach dem Ereignis psychologisch beobachtet werden. Eigentlich ganz einfach.

Umso mehr wundern sich Experten, dass die Bundeswehr das neue Konzept nicht umsetzt. "Die Mühlen in der Bundeswehr mahlen eben langsam", meint etwas resigniert Psychiater Bering.

Vielleicht aber ist es auch purer Pragmatismus: "Die Wichtigkeit der präventiven Verfahren wird überschätzt", meint Oberfeldarzt Zimmermann. Und überhaupt: "Falls sich tatsächlich eine PTBS entwickelt, haben wir doch gute Therapien."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: