Tödliche Umweltverschmutzung:Plastik im Magen

Massen von Kunststoff wirft die Menschheit täglich ins Meer. Die fatalen Folgen für die Tierwelt zeigen sich auch an den Stränden der Nordeseeinsel Textel.

Güven Purtul

Möwen kreisen über den Dünen, Strandhafer beugt sich im Wind. Im Watt picken Vögel nach Würmern. Zwischen Festland und Insel tuckern Fischerboote ins offene Meer. Naturbelassene Strände machen den Reiz der Westfriesischen Insel Texel aus.

Tödliche Umweltverschmutzung: Große Mengen Müll schwemmt die Nordsee an die Strände von Texel - mit tödlichen Folgen für Seevögel. Die ARD-Sendung "W wie Wissen" zeigt am Sonntag, dem 4. Mai um 17.03 Uhr Wege aus solchen Müllproblemen.

Große Mengen Müll schwemmt die Nordsee an die Strände von Texel - mit tödlichen Folgen für Seevögel. Die ARD-Sendung "W wie Wissen" zeigt am Sonntag, dem 4. Mai um 17.03 Uhr Wege aus solchen Müllproblemen.

(Foto: Foto: Güven Purtul)

Doch wer vor Beginn der Saison zwischen Dünen und Meer entlang spaziert, sieht eine andere Seite des Nationalparks "Duinen van Texel". Flaschen, Becher, Schuhe, Folien, kaputte Fischernetze, paraffinartige Klumpen und sogar mannshohe Bottiche liegen im Sand.

Sieben bis acht Kilogramm Abfall spült die Nordsee jeden Tag auf jeden Kilometer Inselstrand, haben Mitarbeiter des halbstaatlichen Forschungszentrums Imares auf Texel ermittelt. Das meiste davon ist von Schiffen ins Meer geworfenes Plastik.

Auch Rohstoffe gehen über Bord. Nils Guse kniet im Sand und zeigt auf kleine Kügelchen. "Diese Pellets dienen als Rohmaterial für die Kunststoffproduktion. Die finden Sie hier überall." Dazwischen immer wieder Federn und Gerippe verendeter Vögel.

Guse arbeitet am Forschungs- und Technologiezentrum Westküste in Büsum in Schleswig-Holstein. Er ist bei holländischen Kollegen zu Gast und sucht nach tot angespülten Eissturmvögeln. Je nach Zustand landen sie auf den Seziertischen des Imares-Instituts. Ihr Mageninhalt dient dann als Indikator für die Müllbelastung der Meere.

Tödliche Verwechslung

Die Allesfresser nehmen Stichproben aus der Nordsee. Eissturmvögel ernähren sich fernab der Küste von allem was schwimmt: Fische, Tintenfische, Zooplankton, Kadaver. "Bis vor wenigen Jahrzehnten war das kein Problem", sagt Guse, "die Vögel mussten nicht wählerisch sein". Inzwischen wird ihnen das zum Verhängnis: Sie verwechseln Plastik mit Nahrung.

Anders als Möwen würgen Eissturmvögel unverdauliche Teile nicht aus. Das macht sie zu idealen Forschungsobjekten. Niederländische Forscher um Jan van Franeker untersuchen die Vögel seit 1982; seit sechs Jahren beteiligen sich alle Nordseeanrainer an dem Programm. Es soll zeigen, ob die im Jahr 2000 beschlossenen Maßnahmen zum Schutz der Nordsee greifen. Nils Guse ist darum zu einem Workshop nach Texel gereist, bei dem Wissenschaftler jüngst gefundene Vögel sezieren.

Guse tauscht die Windjacke gegen einen weißen Kittel und öffnet die Tür zum Licht durchfluteten Imares-Labor. Süßlicher Verwesungsgeruch liegt in der Luft. Auf den Tischen liegen aufgetaute Eissturmvögel. Der Meeresbiologe wiegt ein Tier und untersucht dann den Mageninhalt. Mit einer Pinzette pickt er Plastikpellets und -fragmente heraus. "Wir finden durchschnittlich 29 Partikel pro Tier", sagt Guse, "hauptsächlich Verbraucherplastik".

Von den 2002 bis 2004 untersuchten 819 Eissturmvögeln stammten 183 von der deutschen Nordseeküste. "93 Prozent hatten Plastikmüll im Magen. Die südöstliche Nordsee, also die Deutsche Bucht bis zur französischen Kanalküste, ist am stärksten betroffen", sagt der Biologe. "Dort finden wir im Schnitt 300 Milligramm Plastikmüll pro Eissturmvogel." Hochgerechnet auf das Gewicht eines Menschen entspräche das einer gefüllten Brotdose voller Plastik.

(Die ARD-Sendung "W wie Wissen" zeigt am Sonntag, dem 4. Mai um 17.03 Uhr eine Dokumentation über den Plastikmüll)

Plastik im Magen

Einige Tiere haben so viel Kunststoff im Magen, dass keine Nahrung mehr hinein passt. Zum Beweis legt Jan van Franeker einen stark zersausten Eissturmvogel auf den Seziertisch. "Der hat kaum noch Muskelmasse", sagt er, "da dürfte ziemlich viel Plastik drin sein".

Tödliche Umweltverschmutzung: Vor allem tückische kleine Teile aus Plastikrohstoff sind für Seevögel tödlich.

Vor allem tückische kleine Teile aus Plastikrohstoff sind für Seevögel tödlich.

(Foto: Foto: Güven Purtul)

Tatsächlich ist der Magen des dürren Vogels prall gefüllt, genauer: ausgebeult. Eissturmvögel haben sich zu "fliegenden Mülltonnen" entwickelt, sagt van Franeker. Doch ihre Belastung stehe stellvertretend für alle Meerestiere. Seehunde, Seevögel, Schildkröten, Wale - sie alle leiden unter den Produkten der Industrie.

Müllstrudel im Pazifik

Plastikmüll ist mittlerweile in allen Weltmeeren zu finden. Jährlich gelangen weit über 6,4 Millionen Tonnen Müll ins Meer, so eine Schätzung der amerikanischen Akademie der Wissenschaften.

Das weitaus meiste davon ist extrem langlebiger Kunststoff. Mitten im Pazifik gibt es einen kreisenden Müllteppich, der auf die Größe Zentraleuropas angewachsen ist. Die Kunststoffe werden im Laufe der Zeit porös und zerfallen in immer kleinere Teile. In Oberflächenproben aus dem pazifischen Müllstrudel fand die Umweltorganisation "Algalita Marine Research Foundation" sechsmal so viel Mikromüll aus Plastik wie Plankton.

Die winzigen Fragmente enthalten oft Giftstoffe, zum Beispiel Weichmacher. Wie ein Schwamm saugen sie zudem wasserunlösliche, toxische Substanzen wie DDT oder PCB auf. Niedere Meerestiere bauen die kleinen Kunststoffteile in den Organismus ein. "Es ist noch unbekannt, was das für die einfachen Lebenwesen bedeutet, für Plankton zum Beispiel", sagt Guse, "über die Nahrungskette gelangen die Gifte jedenfalls wieder in die größeren Tiere". Und damit zum Menschen.

Ein Großteil der Abfälle im Pazifik stammt, anders als in der Nordsee, von Land und gelangt über Flüsse ins Meer. Greenpeace-Mitarbeiter Thilo Maack ist an der Küste Hawaiis schon durch Müllberge gewatet: "Wir haben Kühlschränke, Fernseher, hunderte von Plastikzahnbürsten und so weiter gesehen und eingesammelt. Und mitten drin liegen verhungerte und verdurstete Albatrosküken." Ihre Obduktion brachte Plastikteile zum Vorschein, mit denen sie von ihren Eltern gefüttert worden waren.

Plastik im Magen

Billige Abfallentsorgung über Bord

Der Plastikmüll in der Nordsee stamme hauptsächlich von der Schifffahrt, der Fischerei und der Offshore-Industrie, sagt Guse. So werde Plastikmüll häufig gemeinsam mit Essensresten in den Schiffsküchen gehäkselt und dann über Bord gekippt. Das ist schon lange verboten. Im Jahr 2000 verabschiedete die EU eine Richtlinie, die Auffangeinrichtungen für Schiffsabfälle in allen europäischen Häfen vorschreibt. Schiffe müssen eine Pauschalgebühr entrichten.

Doch noch immer kostet jede zusätzliche Müllentsorgung Geld, das die Reeder sparen, indem der Abfall über Bord geht. Der Erfolg der Maßnahmen hält sich daher in Grenzen: Von 1982 bis 2006 fanden die holländischen Forscher keine signifikante Änderung in der Müllbelastung der Eissturmvögel. Einzig die Zusammensetzung des Abfalls in den Mägen änderte sich: Die Belastung mit industriellen Plastikpellets ging zurück, der Anteil von Verbraucherplastik nahm zu.

Damit Schiffsbesatzungen ihren Müll nicht mehr über Bord kippen, fordert Greenpeace eine kostenfreie Entsorgung an Land und härtere Strafen für Müllsünder: "Wenn ein großes Schiff über die Weltmeere fährt, fällt eine bestimmte Menge Müll an", sagt Maack. "Und wenn diese Menge Müll nicht an Bord ist, dann ist der Schluss relativ einfach, dass er irgendwo im Meer gelandet ist. Dafür muss es Strafen geben."

Schon heute hat die Plastikmüllschwemme bizarre Folgen: Richard Thompson von der Universität Plymouth hat Sandproben von Dutzenden Stränden weltweit untersucht. Das Ergebnis: Sie bestehen zu einem immer größeren Anteil aus winzigen Plastikteilchen, bisweilen beträgt dieser mehr als zehn Prozent der Masse.

"Das kriegt man nicht mit, es ist ja in ganz kleine Stückchen zerschlagen", sagt Maack. "Unter den Fußsohlen knirscht es noch." Aber das könnte sich bald ändern: Auf lange Sicht, so die Forscher, werden überall auf der Erde Strände aus kleinen Plastikstückchen entstehen.

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