Johann Martin Friedrich von Endter wollte seine Mitmenschen aufklären. Um zu zeigen, wie grausam einst Recht gesprochen wurde, schickte sich der Nürnberger Jurist um die Wende zum 19. Jahrhundert an, eine höchst ungewöhnliche Schrift herauszugeben: das Tagebuch des "Meister Frantzen Nachrichter". Darin hat Frantz Schmidt, der einstige Nürnberger Henker, den man in der Reichsstadt Nachrichter nannte, sein langes Berufsleben geflissentlich dokumentiert. Freilich handelt es sich bei der Schrift nicht um ein Tagebuch im heutigen Sinne: "Ich" sagt Meister Frantz, der um 1554 in Hof geboren wurde, nur in wenigen Fällen.
Außergewöhnliche 45 Jahre lang übte der Scharfrichter seine Tätigkeit aus: von 1573 bis zu seiner Pensionierung 1618. Dabei beförderte er nach eigener Zählung knapp 400 Menschen vom Leben zum Tode, noch sehr viel mehr Delinquenten peitschte er aus. Als das Tagebuch, in dem jeder Fall "fleißig beschriben, deßgleichen auch zu lesen" ist, 1801 erschien, weckte es allerdings weniger das Interesse der Justiz. Dafür stürzten sich umso eifriger die Romantiker mit ihrer blumenblaublühenden Fantasie darauf.
1810 wies Achim von Arnim die Gebrüder Grimm auf die "bekannten Annalen des Nürnberger Schinders" hin, "der fünfhundert Menschen hingerichtet" hat. In Clemens Brentanos einige Jahre später erschienener Novelle "Die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl", ist aus dem historischen Nachrichter endgültig eine schauerromantische Figur geworden. "Ich kenne mein Schwert, es ist lebendig!", lauten die Worte, die der Dichter Meister Frantz in den Mund legt.
Es galt abzuschrecken
1913 wurde eine überarbeitete Neuedition des Tagebuchs veröffentlicht, die 1979 erneut aufgelegt wurde. 2013 beschloss der Nürnberger Verein "Geschichte für Alle" schließlich, die längst vergriffene Ausgabe wieder herauszubringen, nun ergänzt um Textvarianten und eine historische Einordnung. Es ist eine sozial- und kriminalhistorische Fundgrube, in der man umso interessierter blättert, seit Joel F. Harrington vor gar nicht langer Zeit die flott geschriebene Studie "Die Ehre des Scharfrichters" vorgelegt hat.
Darin stützt sich der amerikanische Historiker auf die früheste Abschrift des einzigartigen Dokuments von 1634 - dem Jahr, in dem Meister Frantz im Alter von 80 Jahren in Nürnberg starb. Harrington entdeckte im österreichischen Staatsarchiv in Wien eine weitere Quelle, die noch ein ganz neues Licht auf den Scharfrichter wirft. Ihr Adressat? Kein geringerer als Kaiser Ferdinand II. Ihr Absender? Der 70-jährige Henker.
Mit diesem Rüstzeug im Gepäck entführt Harrington den Leser in eine Zeit, die eine vollkommen andere Auffassung von Verbrechen und Strafe hatte. Es galt abzuschrecken sowie die weltliche und göttliche Ordnung wiederherzustellen. Zwischen Verhör, Urteil und Hinrichtungsstätte kam Meister Frantz eine Schlüsselrolle zu. Aber was, so fragt Harrington, ging in seinem Kopf vor?
Die verblüffende Antwort: Zeit seines Lebens kämpfte er um die Wiedererlangung seiner Ehre. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm: Es war besiegelt, kaum dass er geboren war. Als Sohn eines Scharfrichters konnte er nach damaliger Sitte keinen anderen Weg als den seines Vaters Heinrich einschlagen. Das ist umso bitterer, als dieser sich den sozial geächteten Beruf keineswegs freiwillig ausgesucht hatte.
Vielmehr war Heinrich Schmidt zur falschen Zeit am falschen Ort. Weil kein Henker in der Nähe war, wählte Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach während des Zweiten Markgrafenkrieges einfach seinen Untertanen Heinrich aus, um drei örtliche Waffenschmiede, die angeblich einen Anschlag auf den Herrscher planten, hinzurichten. Wollte Heinrich nicht selber getötet werden, musste er gehorchen. Und war fortan "unwiderruflich aus der ehrbaren Gesellschaft ausgeschlossen", so Harrington.
Nach einer Lehrzeit beim Vater - Heinrich war mittlerweile Henker in Bamberg - führte Frantz 1578 sein Weg in die stolze Reichsstadt Nürnberg. Dort machte er die Sache so gut, dass er sechs Jahre später fest angestellt wurde. Noch heute kann man seine Dienstwohnung, die er mit Frau und Kindern bewohnte, besichtigen - mittlerweile beherbergt das Henkerhaus ein Museum und ist eines der beliebtesten Touristenmotive.
Alles andere als ein Sadist
In seinem Tagebuch wird ein Mann sichtbar, der alles andere als ein Sadist gewesen ist. Im Gegenteil: Er rührte keinen Alkohol an, hielt sich an die Gesetze und war überaus fromm. Zudem galt seine Anteilnahme stets den Opfern der zu strafenden Delinquenten. Und er war als Arzt und Heiler tätig. Bereits 1593 erhielt er das Nürnberger Bürgerrecht, das zuletzt einem Scharfrichter 1497 zugesprochen wurde. Doch die endgültige Rehabilitation erlangte der gewissenhafte Nachrichter erst nach seiner Pensionierung.
1624 wandte er sich in einem Brief an Ferdinand II. Darin bittet er offiziell um die Wiedererlangung seiner Ehre und der Familie. Als Begründung führt er unter anderem an: dass er "neben meinen shweren beruf und Ampt ... uber die fünfzehen tausent Menschen ... geheylt" habe. Und dass es in all den Jahren keine Klagen über ihn gab, "weder in meiner mir anbefohlenen shiren Amptsverrichtung, noch in andere weg".
Nur wenige Monate später kam aus Wien die Antwort, auf die Meister Frantz ein Leben lang sehnsüchtig gewartet hatte: ". . . und Ihne sambt den seingen in Standt und Würde, anderer redlichen Leuth gleichen gestalt zusetzen, Unnd zu restituirn." Er zog noch einmal um, in die Obere Wörthstraße, bis er am 13. Juni 1634 aus dem Leben schied. Der Eintrag im Beerdigungsbuch lautet: "Der ersam Franz Schmid Arzt im oberenword."