Süddeutsche Zeitung

Nachhaltigkeit:Tiere töten, um sie zu schützen?

Der Tiger ist vom Aussterben bedroht - und soll dennoch mancherorts geschossen werden. Das kann in einigen Fällen tatsächlich richtig sein.

Kommentar von Tina Baier

In den meisten Geschichten über bedrohte Tierarten sind die Rollen klar verteilt. Der Bösewicht ist der habgierige Wilderer, der Nashörnern, Elefanten oder Tigern nachstellt, um aus ihnen Trophäen oder irgendeine obskure medizinische Zutat zu machen. Auf der guten Seite steht der Artenschützer, der versucht, diese Tiere zu retten. In der Realität ist die Sache oft komplizierter. Immer wieder müssen Artenschützer unpopuläre Entscheidungen treffen, bei denen keineswegs klar ist, was richtig und was falsch ist.

In Indien zum Beispiel leben 3000 wilde Tiger, das sind 70 Prozent aller Raubkatzen, die es von dieser Art überhaupt noch gibt. Dort geht es ihnen vergleichsweise gut und sie werden sogar mehr. Vielerorts werden die Reservate zu eng für die großen Raubkatzen, sodass sie gezwungen sind, in Gegenden auszuweichen, in denen auch Menschen leben. In der Regel versuchen die Tiere, den Menschen aus dem Weg zu gehen. Doch 40 bis 50 Mal im Jahr kommt es vor, dass ein Tiger einen Menschen angreift und tötet. Ist ein solcher "Menschenfresser", der mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Menschen angreifen wird, weil er gelernt hat, dass sie eine leichte Beute sind, noch schützenswert?

In Neuseeland rotten niedliche Oppossums hilflose Vögel aus

Indische Artenschützer haben diese Frage soeben mit "nein" beantwortet und zwar nicht, weil sie das Wohl des Menschen über das der bedrohten Tiger stellen. Menschenfressende Tiger sollten ihrer Ansicht nach gejagt und getötet werden, weil diese wenigen Individuen mit ihren Attacken die Bevölkerung in Rage bringen und damit den Schutz der gesamten Population gefährden.

Es ist der klassische Konflikt zwischen Tierschutz - bei dem es um das Wohl jedes einzelnen Lebewesens geht - und Artenschutz - bei dem es darum geht, eine ganze Spezies vor dem Aussterben zu retten. Darf man Tiere töten, um eine Spezies vor dem Aussterben zu schützen? Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Die Entscheidung kann von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen. Auf den Galapagos-Inseln beispielsweise wurden vor einigen Jahren unzählige Ziegen abgeschossen, weil sie den dort lebenden Riesenschildkröten das Futter weggefressen hatten.

Und in Neuseeland werden massenhaft Opossums getötet, um die letzten dort lebenden Kiwis zu retten. Die Vögel können nicht fliegen und sind den niedlichen Raubtieren hilflos ausgeliefert. In Deutschland bahnt sich ein ähnliches Problem mit den Waschbären an, die sich immer weiter ausbreiten und vom Aussterben bedrohten Fröschen und Kröten den Garaus machen. Schon jetzt ist klar, dass Artenschützer, die sich in der Öffentlichkeit gegen die putzigen Waschbären und für die glibberigen Kröten positionieren, nicht nur auf Zustimmung stoßen werden.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2019
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