Kabel am Kopf eines Affen, Mäuse im Labyrinth oder Ratten mit einer Spritze: Derartige Bilder von Tierversuchen lassen kaum jemanden unberührt. So kürzlich in Tübingen: Forscher untersuchen dort an Krähen die Arbeitsweise von Nervenzellen, um herauszufinden, wie kognitive Leistungen entstehen. Die Versuche fanden auch an einem halben Dutzend Wildtiere statt, die ein Vogelschutzzentrum zur Verfügung gestellt hatte - später erklärte es, der Einsatz in invasiven Versuchen sei nicht abgesprochen gewesen. "Steckdose auf dem Kopf anstatt Freiheit", überschrieb die Organisation "Ärzte gegen Tierversuche" eine Pressemitteilung und sprach von "für den Menschen vollkommen irrelevante Neugierforschung", denn die Ergebnisse seien nicht vom Tier übertragbar. "Forschung soll kranken Menschen zu Gute kommen, nicht den beliebigen Interessen einzelner Forscher."
Die Uni Tübingen sieht den Sachverhalt anders: Die neurobiologischen Arbeiten zum Bewusstsein bei Krähenvögeln seien in den USA als ein "Forschungsdurchbruch des Jahres" ausgezeichnet worden, methodisch seien invasive Eingriffe unabdingbar. "Die Universität steht zur Notwendigkeit von Tierversuchen und weiß dabei um die Verantwortung, die der Umgang mit Tieren mit sich bringt", erklärte Rektor Bernd Engler. "Grundlagenforschung wie die der Tübinger Hirnforschung halten wir für unverzichtbar."
Klar ist, dass Leiden und Verletzungen bei Tierversuchen auf das Minimum beschränkt werden müssen, wie auch die Zahl der Versuchstiere. Doch aktuelle Gesetzesänderungen sollen den Behörden nun genauere Kontrollen auferlegen, ob Experimente wie an den Krähen in Tübingen tatsächlich wissenschaftlich sinnvoll und notwendig sind.
Deutschland drohe international abgehängt zu werden, warnt die Max-Planck-Gesellschaft
Bislang wurde nur geprüft, ob plausibel begründet ist, dass Versuche etwa für die Grundlagenforschung oder aus medizinischer Sicht unerlässlich sind und es sich nicht um unnötige Wiederholungen handelt. Außerdem dürfen andere Methoden nicht zur Verfügung stehen, Schmerzen und Schäden für die Tiere müssen ethisch vertretbar sein. Die Begründung selbst wurde jedoch nicht inhaltlich durchleuchtet. Wenn Forscher die Bedeutung des Versuchs wissenschaftlich dargelegt haben, gebe es bei der Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit "für administrative Entscheidungsspielräume" keinen Raum, hatte das Oberverwaltungsgericht Bremen 2012 entschieden. Die Begründung unterliege nur einer Plausibilitätskontrolle.
Hingegen bemängelte die EU-Kommission im Jahr 2018, die deutschen Regelungen seien zu lax und verstießen gegen eine seit 2012 geltende EU-Richtlinie. Infolge eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens muss der Bund nun von bloßen Plausibilitätsprüfungen abrücken. Die EU-Kommission akzeptierte außerdem nicht, dass manche Versuche nur angezeigt und nicht genehmigt werden mussten, wie auch unzureichende Kontrollen zum Aufgabenbereich der Tierschutzbeauftragten an den jeweiligen Instituten.
Im Mai beschloss der Bundestag daher Änderungen am Tierschutzgesetz: Zukünftig sollen Behörden prüfen, ob ein beantragter Tierversuch "aus wissenschaftlicher oder pädagogischer Sicht gerechtfertigt ist".
Was diese Formulierung genau bedeutet, ist indes strittig. Mehreren Landestierschutzbeauftragten reicht sie jedenfalls nicht. Ihrer Interpretation nach könnten Behörden und Gerichte dies so auslegen, dass sie nur prüfen müssten, ob es zum Versuch eine plausible Rechtfertigung gibt. Die Behörden müssten aber auch eigenständige Ermittlungen anstellen, relevante Experten hinzuziehen und selbst erheben dürfen, ob der Nutzen des angestrebten Erkenntnisgewinns die Schmerzen, Ängste und Schäden der Versuchstiere überwiege.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte sich hingegen wie auch andere Organisationen gegen die Änderung ausgesprochen und erklärt, die Forschungsfreiheit sei in Gefahr: Die wissenschaftliche Rechtfertigung gehöre zum Kompetenzbereich des Antragsstellers. Behörden sollten die Begründung dagegen selbst nicht inhaltlich prüfen. Auch die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) sieht die Ergänzung "durchaus kritisch", erklärt eine Sprecherin. Schon jetzt würden 79 Prozent aller Tierversuchsanträge nicht in der vorgeschriebenen Frist geprüft. Dies werde sich durch den "erweiterten Prüfaufwand noch mehr in die Länge ziehen", was Nachwuchswissenschaftler mit befristeten Stellen einschränken könne: Für sie seien die Prüfzeiten entscheidend, um Versuche rechtzeitig durchführen zu können. Externe Experten einzubinden führe zu einer weiteren Bürokratisierung und zu Verzögerungen, fürchtet die MPG. Außerdem fordert sie eine bundesweit einheitliche Verwaltungspraxis. "Sollte es hier nicht zu Verbesserungen kommen, wird Deutschland im internationalen Vergleich signifikante Einbußen in der Wettbewerbsfähigkeit seiner biomedizinischen Grundlagenforschung und seiner pharmazeutischen Forschung erleiden."
In manchen Bundesländern können Organisationen stellvertretend für Tiere klagen
Für den Deutschen Tierschutzbund sind die Gesetzesänderungen hingegen "absolut unzureichend" - Möglichkeiten, Tierversuche weiter einzuschränken, blieben ungenutzt. Die Änderungen trügen "in keiner Weise zu einem stärkeren Schutz von Versuchstieren bei", sagt der Präsident des Verbands, Thomas Schröder. Der Verband habe sich an die EU-Kommission gewandt und gefordert, das Vertragsverletzungsverfahren nicht zu beenden. Positiv aus seiner Sicht: Inzwischen haben einige Bundesländer Tierschutzorganisationen ein Verbandsklagerecht eingeräumt - sie können praktisch stellvertretend für Tiere klagen.
Der Hormonforscher Jan Tuckermann kennt Tierversuche aus zwei Rollen: Er leitet das Institut für Molekulare Endokrinologie der Tiere an der Universität Ulm und ist Mitglied einer Kommission zur Begutachtung von Tierversuchsanträgen am Regierungspräsidium Tübingen. Die Auswirkungen der Gesetzesänderungen für die Praxis müssten erst abgewartet werden, sagt er. Seiner Erfahrung nach würden sich die Kommissionen bezüglich der Begründungen oft nur mit Halbwissen einmischen. Dagegen könnten Kollegen auf dem jeweiligen Spezialgebiet - wie es bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen üblich ist - am besten beurteilen, ob Versuche wissenschaftlich sinnvoll sind. Derartige Begutachtungen seien in den Genehmigungsverfahren jedoch nicht vorgesehen.
Allerdings gebe es im Vorfeld vergleichbare Schritte - wenn Forscher etwa bei der DFG Gelder beantragen. Wissenschaftler müssten in deren Anträgen immer mehr begründen, wie Tierversuche vermieden, die Zahl der Tiere verringert und ihr Leiden reduziert werden kann, sagt Tuckermann. Insgesamt verschöben sich die Standards, "wir spiegeln die gesellschaftliche Diskussion", erklärt er. Die tierversuchskritischen Organisationen erlebe er als hilfreich. "Am Schluss ist es schon so, dass die meisten Anträge genehmigt werden - aber in überarbeiteter Form."
Die Vorstellung, man könne komplett aus Tierversuchen aussteigen, "ignoriert das Anliegen, für das Wohl und die Gesundheit von Mensch und Tier zu forschen", argumentiert die DFG. "Ohne Grundlagenforschung würde es langfristig zu einer inadäquaten Versorgung des Patienten kommen." Nur durch Forschung in tierexperimentellen Modellen sei beispielsweise eine schnelle Corona-Impfstoffentwicklung möglich gewesen, erklärt die MPG. So stammten auch mRNA-basierte Impfstoffe aus Tierversuchen, die das Ziel hatten, das Immunsystem gegen spezifische Moleküle von Krebszellen zu richten. "Ohne 20 Jahre währende tierexperimentelle Forschung hätten wir diese Impfstoffe heute nicht und damit auch keine Perspektive für ein wieder weitgehend normales Leben", sagt die MPG-Sprecherin. Seitdem er am Regierungspräsidium Tübingen Tierversuche begutachte, seien darunter auch Studien mit RNA-Impfstoffen gewesen, sagt Tuckermann. Ohne diese Vorarbeiten wären wohl jetzt nicht über 50 Prozent der Bevölkerung doppelt gegen Corona geimpft.