Tiermedizin:Tod im Fjell

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An der Prionenkrankheit CWD verendet: Rentier in Norwegen. (Foto: Roy Andersen/Norwegian Institute for Nature Research (NINA))

Immer mehr Rentiere erkranken in Norwegen an einer unheimlichen Prionenkrankheit. Um die Seuche einzudämmen, lässt die Regierung jetzt eine riesige Herde töten.

Von Erik Stokstad

Um eine tödliche Hirnerkrankung einzudämmen, die sich unter Rentieren verbreitet, hat Norwegens Regierung jetzt eine drastische Maßnahme beschlossen: Eine riesige Herde mit etwa 2000 Tieren soll getötet werden - das entspricht sechs Prozent aller norwegischen Rentiere. Das Landwirtschaftsministerium, das diesen Entschluss erst vor wenigen Tagen gefasst hat, hofft, auf diese Weise die "Chronic wasting disease" (CWD) zu stoppen, die durch toxische Proteine ausgelöst wird, ähnlich wie BSE bei Rindern. "Wir müssen jetzt aktiv werden", sagt die Direktorin für Pflanzen- und Tiergesundheit der norwegischen Behörde für Lebensmittelsicherheit Karen Johanne Baalsrud. Die Region, in der die Rentiere leben, wird für fünf Jahre unter Quarantäne gestellt, um eine erneute Infektion von Tieren zu verhindern.

1967 wurde CWD zum ersten Mal beschrieben. Die Prionen können verschiedene Hirscharten infizieren und lösen eine chronische Auszehrkrankheit aus. Zwei bis drei Jahre nachdem sich ein Tier mit den Proteinen infiziert hat, zeigt es die typischen Anzeichen: Gewichtsverlust, Lethargie und vermehrter Speichelfluss. Einige Monate nach Auftreten der ersten Symptome verendet das Tier. Im US-Bundesstaat Wyoming sind in manchen Herden bis zu 40 Prozent der Tiere infiziert. Bislang gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich Menschen anstecken könnten - anders als bei der Rinderkrankheit BSE.

Die Seuche verbreitet sich leicht von Tier zu Tier. Erkrankte Hirsche scheiden die infektiösen Prionen im Speichel, Urin und Kot aus. Die Proteine können jahrelang in der Umwelt überdauern. Viele Tiere stecken sich an vom Menschen eingerichteten Futterplätzen an. Der Verbreitungsmechanismus der Krankheit mache es so schwierig, sie wieder auszurotten, sagt die Prionenforscherin Christina Sigurdson, von der University of California in San Diego. "Das ist bisher noch niemandem geglückt."

Norwegens erster CWD-Fall wurde nur durch Zufall von Biologen entdeckt, die bei ihrer Arbeit in den Bergen Südnorwegens in der Nordfjella-Region am 15. März 2016 auf ein krankes Jungtier stießen. Als nach dem Tod des Tiers die Tests am norwegischen Veterinärinstitut (NVI) in Oslo auf CWD hinwiesen, "konnte ich das gar nicht glauben", sagt die Prionenforscherin Sylvie Benestad vom NVI. Doch weitere Untersuchungen bestätigten ihre Diagnose. Benestad und ihre Kollegen entdeckten, dass die norwegischen Prionen denen gleichen, die in Nordamerika Hirsche töten. Wie die Proteine den Sprung über den Atlantik geschafft haben, ist den Forschern bislang ein Rätsel. Möglicherweise gelangten Prionen in Urin nach Norwegen, der in den USA als Lockmittel für die Jagd in Flaschen abgefüllt worden war. Oder ein paar der infektiösen Proteine reisten im groben Profil von verschmutzten Jagdstiefeln nach Skandinavien. Prionenkrankheiten können allerdings auch spontan auftreten, nachdem sich im Gehirn eines Tiers ein Protein in falscher Weise gefaltet hat und von seiner normalen Form in die infektiöse und tödliche gewechselt ist. Benestad glaubt, dass in Nordfjella Letzteres passiert ist.

Nach dem ersten Fund im März vergangenen Jahres ließ Norwegen nach weiteren Fällen suchen. Ein Jäger fand daraufhin im Mai zwei erkrankte Elche 40 Kilometer südöstlich von Trondheim. Und während der Jagdsaison im Herbst sammelten Jäger aus allen Landesteilen Gewebeproben erlegter Tiere. So wurden zwei weitere CWD-Fälle in der Nordfjella-Region entdeckt. Diese sind wahrscheinlich nicht mit denen von Trondheim verknüpft, sagt Benestad, denn Rentiere und Elche haben verschiedene Prionen.

Die Elche dürfen leben. Unter den Einzelgängern verbreitet sich die Seuche kaum

Anfang April empfahl schließlich eine Expertengruppe unterschiedliche Vorgehensweisen für die beiden betroffenen Regionen. Bei Trondheim soll die Elchpopulation demnach nur stärker überwacht werden. Tiere werden nicht gekeult. Die erkrankten Elche waren bereits älter, was wahrscheinlich bedeutet, dass sich bei ihnen die Krankheit spontan entwickelt hat und nicht infektiös ist. Und selbst wenn diese Prionen infektiös wären, würde der Lebensstil der Elche als Einzelgänger eine Ausbreitung unwahrscheinlich machen.

Rentiere hingegen sind die geselligste Hirschart und die infizierten Tiere in der Nordfjella-Region könnten massenhaft Prionen verstreut haben. Die gesamte Herde zu töten sei zwar "drastisch", räumt die Expertengruppe in ihrer Erklärung ein, doch sollte diese Empfehlung schnellstmöglich umgesetzt werden. Amateurjäger sollen von August an die Tiere erlegen und dürfen das Fleisch essen, wenn der Prionentest negativ ausfällt. Danach sollen professionelle Jäger die restlichen Tiere aufspüren und erlegen. "Wir werden alles tun, was nötig ist", sagt Erik Lund von der norwegischen Umweltbehörde in Trondheim.

Bis die Operation beginnt, wird darauf geachtet, dass kein Tier das 2000 Quadratkilometer große Revier verlässt oder neu betritt. Erleichtert wird diese Aufgabe dadurch, dass die betroffene Region von asphaltierten Straßen umgeben ist, die Rentiere nur ungern überqueren. Sollten sich dennoch Tiere über diese Barriere wagen, haben die Wächter den Auftrag, sie zu töten. Bis mindestens zum Jahr 2022 soll das Gebiet rentierfrei bleiben. Dann werde man alte Kotproben untersuchen, um herauszufinden, ob die Erreger darin noch infektiös sind.

Aufgrund der niedrigen Fallzahlen hofft Lund, dass die Region nur wenig kontaminiert ist. Auch der Ökologe Michael Samuel von der University of Wisconsin ist optimistisch: "Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie das Problem in den Griff bekommen." Doch das Expertengremium warnt in seinem Bericht vor der Möglichkeit, dass der Erreger bereits in andere Landesteile gelangt sein könnte. In der kommenden Jagdsaison sollten deshalb weitere 20 000 Gewebeproben von Hirschen untersucht werden. Die Angst vor der Hirschseuche hat nun auch die Europäische Union erfasst. Deren Lebensmittelaufsichtsbehörde Efsa empfahl im Januar sieben weiteren Ländern Überwachungsprogramme - für mindestens die nächsten drei Jahre.

Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsmagazin Science erschienen, herausgegeben von der AAAS. Deutsche Bearbeitung: Hanno Charisius. Weitere Informationen: www.aaas.org

© SZ vom 11.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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