Tierische Täuschung:Sex, Lügen und Mimikry

Unehrlichkeit ist in der Natur weit verbreitet. Meistens geht es dabei um Fressen und Gefressenwerden - oder um Fortpflanzung.

Richard Friebe

Lügt ein Eisbär, weil er weiß ist? Irgendwie schon. Zumindest versucht er, durch seine Weißer-Bär-auf-weißem-Grund-Strategie andere hinters Licht zu führen. Tarnung ist Täuschung, und wenn man die Definition von Lüge derart ausweitet, dann wimmelt es in der Natur nur so von Lügnern.

Tierische Täuschung: "Ich bin gar nicht da." Das weiße Fell des Eisbären tarnt den Räuber im Schnee.

"Ich bin gar nicht da." Das weiße Fell des Eisbären tarnt den Räuber im Schnee.

(Foto: Foto: dpa)

Da wird sich getarnt und versteckt, was das Zeug hält - zum Schutz vor Raubtieren oder um selbst als Raubtier nicht bemerkt zu werden. Die Lüge heißt hier: Ich bin gar nicht da.

Manchmal heißt sie aber auch: Ich bin jemand anderes, als ich wirklich bin. Orchideen, etwa die australische Chiloglottis trapeziformis, tun so, als seien ihre Blüten weibliche Insekten.

Mit ihrem falschen Aussehen und den falschen Düften locken sie die Männchen der imitierten Wespenart an. Die versuchen dann unbeholfen, mit dem botanischen Vorgänger der modernen Gummipuppe zu kopulieren - und machen anschließend gleich mit der nächsten Blüte weiter. Ihre Unersättlichkeit verteilt effizient die Pollen der Orchidee.

Der Fortpflanzungserfolg der liebestrunkenen Wespenmännchen hält sich dagegen in Grenzen. Zu einem anderen Zweck verkleiden sich manche Schwebfliegen. Obwohl sie nicht stechen können, sehen sie aus wie Wespen.

Mit dieser Angst einflößenden Strategie haben die Fliegen auch bei Menschen einigen Erfolg. Glühwürmchenarten hingegen belügen sich vor allem untereinander. Manche imitieren die Leuchtmuster der Weibchen einer anderen Art, und die Männchen, die darauf hereinfallen, werden dann auf andere Weise vernascht, als sie sich das vorgestellt hatten.

Irreführung und Lüge

Der englische Naturforscher Henry Walter Bates hat das Phänomen, andere Arten zum eigenen Nutzen nachzuahmen, Mimikry genannt. Lügen und Unehrlichkeit im engeren Sinn, nämlich das Vortäuschen falscher Tatsachen unter Artgenossen, finden sich im Tier- und Pflanzenreich dagegen erstaunlich selten; zu sehr unterscheiden sich Mensch und Tier.

Menschen kommunizieren recht komplex mithilfe der Sprache, sie leben in oft extrem komplexen sozialen Verhältnissen, und die Evolution hat für sie - zusammen mit der Großhirnrinde - die Psychologie erfunden.

So gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen der in der Natur allgegenwärtigen Irreführung anderer und der echten Lüge: Letzterer liegt eine mehr oder minder bewusste Entscheidung zugrunde.

Um sich situationsabhängig zwischen Ehrlichsein und Lüge zu entscheiden, muss ein Lebewesen eine Vorstellung von den Erwartungen des Individuums haben, mit dem es gerade kommuniziert.

Evolutionspsychologen nennen dies eine "Theory of Mind". Allenfalls Menschen und Menschenaffen scheinen über eine solche Theorie vom Gemüt und den möglichen Gedanken sowie Absichten anderer zu verfügen.

Und tatsächlich gibt es auch nur bei Menschenaffen sichere Hinweise auf echte Lügen.

Die britische Verhaltensforscherin Jane Goodall etwa berichtete 1988 von einem Schimpansen, der die von einem Forscher drapierte Banane links liegen ließ, um ein stärkeres Gruppenmitglied nicht darauf aufmerksam zu machen.

Als der Konkurrent außer Sichtweite war, wandte sich der schlaue Kleine dann schnell der Banane zu. Andere Affenforscher haben ähnliche Geschichten auf Lager, auch solche, in denen der Belogene den Braten wittert, sich versteckt und den Gruppengenossen beobachtet, um ihm dann im entscheidenden Moment die Mahlzeit abzunehmen.

Der Leipziger Kognitionsforscher Michael Tomasello fand bei Schimpansen sogar, dass sie menschliche Konkurrenten in einem Test irrezuführen versuchten, um an Futter zu gelangen.

Dass Sprache das beste Vehikel für Lügen ist, zeigt sich an Schimpansen, die ein wenig Zeichensprache gelernt haben. Stellen die Tiere etwas an, signalisieren sie ihrem Betreuer gern mal, dass sie es gar nicht waren und versuchen, die Schuld dem gerade nicht anwesenden Betreuer in die Schuhe zu schieben.

Angehörige anderer Arten täuschen zu können - seien es Beutetiere oder Fressfeinde -, ist immer gut: In der Evolution setzen sich all die Eigenschaften besonders durch, die Individuen einen im Vergleich zu anderen hohen Fortpflanzungserfolg bescheren.

Bei der gefoppten Art werden sich aber im Lauf der Zeit auch Eigenschaften durchsetzen, mit denen sie dem Betrug entgehen kann. Die Betrügerart muss folglich verfeinerte Betrugsstrategien entwickeln. Und so weiter. Ein typisches evolutionäres Rennen.

Dagegen setzt sich die Fähigkeit, Artgenossen hinters Licht zu führen, im Darwinschen Prozess der natürlichen Selektion offenbar nur selten durch. Das liegt wahrscheinlich daran, dass in einem Kommunikationsprozess, in dem es nicht um Leben und Tod geht, der Empfänger eines Signals die Oberhand hat.

Er kann entscheiden, ob er etwas "glaubt" oder nicht. Damit siegt normalerweise innerhalb einer Art die Ehrlichkeit.

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Diesen und weitere Artikel zum Thema Lügen im Magazin SZ Wissen 18/2007. Das neue Heft bekommen Sie am Kiosk

Schmerzhafte Kuckuckskinderstatistik

Aber es gibt Ausnahmen. Ein solcher Fall etwa sind Froschmännchen, die nicht so gut quaken können wie ihre kräftigeren Artgenossen. Sie sitzen im Teich gern direkt neben einem solchen Prachtexemplar, das mit lauten Rufen ein ehrliches Signal über seine Fitness an die Weibchen aussendet.

Schimpansen; dpa

Wer, ich? Nie! Vertreter dieser Spezies zeigen schon ein sehr menschenähnliches Lügenverhalten.

(Foto: Foto: dpa)

Und gelegentlich gelingt es dem Trittbrettfahrer, dem quakenden Frosch die betörte Dame wegzuschnappen. Da er das aber nur vergleichsweise selten schafft, behalten die Starken insgesamt die Oberhand. Überhaupt ist Unehrlichkeit innerhalb einer Art im Tierreich vor allem beim Sex verbreitet - selbst bei Vögeln, die lange als Paradebeispiele für Einehe im Tierreich galten.

Vor gut 40 Jahren vermutete der Ornithologe David Lack noch, 92 Prozent aller Vogelarten lebten monogam. Inzwischen sind Ibisse, Schwäne, Schwalben, ja selbst der lange als Mustertier der Treue gehandelte Galapagos-Albatros als Fremdgänger entlarvt. Männchen tun es ständig, weil es für sie (im Gegensatz zum Eierlegen) kein großer Aufwand ist und sie so ihre Gene gut verteilen können.

Aber auch Vogelweibchen lassen es, wenn der Partner nicht in der Nähe ist, meist bereitwillig geschehen: Der evolutionäre Nutzen, die eigenen Gene mal mit anderen zu mischen, ist offenbar auch für Weibchen größer als der Schaden, als Betrügerin entlarvt zu werden.

Bei Menschen, denen die Kultur meist Einehe verordnet, ist es ähnlich. Die für Männer so schmerzhafte Kuckuckskinderstatistik zeigt es. Sowohl im Tierreich als auch beim Menschen bleiben solche Sexlügen meist unentdeckt oder schwer beweisbar. Zumindest, wenn man nicht auf einem DNS-Test besteht. Aber auch die alte, an andere Spezies gerichtete Lüge beherrscht der Mensch hervorragend.

Er tarnt sich in Grün als Jäger auf seinem Hochsitz, lässt Hühner Eier legen, nur um sie in die Pfanne zu hauen, füttert Schweine, nur um sie aufzuessen. Und was sagen wir zu Nachbars stinkendem, sabberndem, ständig kläffendem Köter, während wir ihm scheinheilig durchs schmierige Fell streicheln? "Ja, der Waldi, ja soo ein guter Hund!"

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