Süddeutsche Zeitung

Tierische Intelligenz:Nachdenkliche Krähen

Wenn Neukaledonien-Krähen beobachten, wie sich etwas bewegt, so vermuten sie dahinter eine Ursache - selbst wenn diese nicht zu sehen ist. Bislang war eine solche Denkleistung nur für den Menschen nachgewiesen.

Nichts geschieht, ohne dass es eine Ursache oder wenigstens einen bestimmten Grund hat, stellte der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) fest. Über diese Erkenntnis verfügen vermutlich nur wir Menschen.

Allerdings zeigen Neukaledonien-Krähen (Geradschnabelkrähen; Corvus moneduloides) Denkleistungen, die bereits nahe an die unseren heranreichen. Auch sie sind offenbar fähig dazu, auf Ursachen zu schließen, wenn etwas passiert - selbst wenn diese Ursachen nicht zu sehen sind. Das berichten Wissenschaftler aus Neuseeland, Großbritannien und Österreich.

"Stellen Sie sich einen Vogel vor, der auf einen Affen blickt, der sich durch das Blätterdach bewegt", fordern Alex Taylor von der University of Auckland und seine Kollegen die Leser auf. Meist werde er in der Lage sein, den Affen und die Bewegung der Blätter gleichzeitig zu beobachten. In dichten Baumkronen allerdings könnte es sein, dass nur wellenartige Bewegungen der Blätter zu sehen sind, aber nicht der Affe, der sie verursacht.

Menschen, so fahren die Wissenschaftler fort, könnten sich vorstellen, dass es eine versteckte Ursache - zum Beispiel einen Affen - gibt, wenn kein Wind weht, der die Bewegung auslösen könnte. Bereits im Alter von sieben bis zehn Monaten zeigen Babys Hinweise darauf, dass sie sich die Frage stellen, was einen Vorgang in ihrer Umgebung ausgelöst hat. Diese Denkleistung, ständig nach kausalen Zusammenhängen zu suchen, "stützt nicht nur wissenschaftliche und religiöse Gedanken, sondern auch unsere weit entwickelten Fähigkeiten zum Werkzeuggebrauch und das Verständnis sozialer Interaktionen".

Bislang gab es keine Belege dafür, dass Tiere sich Gedanken über versteckte Ursachen machen. Wie die Wissenschaftler jetzt im Fachmagazin PNAS berichten, haben sie bei den Neukaledonien-Krähen nun Hinweise auf genau diese Fähigkeit entdeckt.

Untersucht hatten sie ausgerechnet diese Vögel, weil sie sich bereits als geschickte Werkzeugbastler und -anwender erwiesen haben. Die Forscher beobachteten acht zuvor gefangene Krähen, die in ihrer Voliere gelernt hatten, mit einem Stöckchen Futter aus einer Box zu holen.

Wer bewegt den Stock?

Das erste Experiment mit den Vögeln bestand darin, dass zwei Personen die Voliere betraten. Eine stellte sich neben dem Tisch mit der Futterbox, die andere verschwand hinter einem Vorhang, aus dem dann wiederholt ein Stock in Richtung Futter herausgestoßen wurde. Anschließend verließen beide Personen den Käfig wieder.

In einem zweiten Durchgang stellte sich ein Mensch neben den Tisch, der Stock aus dem Vorhang wurde jedoch von außerhalb der Voliere bedient.

In beiden Fällen holten sich die Krähen zwar wieder Futter, wenn niemand mehr im Käfig war. Wenn sie zuvor beobachtet hatten, dass der Stock sich bewegt hatte, während ein Mensch hinter dem Vorhang verschwunden war, kümmerten sie sich aber nicht besonders um den bewegungslosen Stock, der noch immer zu sehen war. Die Tiere, so vermuten die Wissenschaftler, unterstellten einen Zusammenhang zwischen dem Menschen hinter dem Vorhang und der Bewegung des Stocks. War niemand da, betrachteten sie die Gefahr als gering.

Nachdem sich im zweiten Durchgang der Stock jedoch bewegt, obwohl sich niemand hinter dem Vorhang aufgehalten hatte, veränderten die Tiere ihr Verhalten. Sie behielten das gefährliche Gerät nun nervös im Auge, während sie sich das Futter besorgten. Einige Tiere verzichteten sogar ganz auf die Suche nach Futter in der Box. Wenn sich dieses Ding schon einmal ohne Ursache bewegt hatte, so schienen die Vögel zu denken, dann könnte das jederzeit wieder passieren.

"Wir hatten angenommen, dass die Krähen sich vor dem Stock fürchten würden", sagte Taylor ScienceNow. "Stattdessen wurden sie nur ängstlich, wenn sie die Bewegung nicht einem versteckten Menschen als Auslöser zuordnen konnten - was darauf hindeutet, dass sie begriffen hatten, dass der Mensch die Ursache war."

Taylor und seine Kollegen halten sich nicht für die ersten, die Tieren solche Fähigkeiten zutrauen. Wie sie feststellen, hatte schon Charles Darwin, Begründer der Evolutionstheorie, so etwas vermutet. Sein Hund, der einen Sonnenschirm anbellte, nur weil der sich im Wind bewegte, könnte dies getan haben, weil Bewegung ohne offensichtliche Ursache für das Tier auf die Anwesenheit eines seltsamen, lebenden Eindringlings in sein Territorium hindeutete, schrieb er 1874 in seinem Buch "Die Abstammung des Menschen". Ausgehend von der Fähigkeit des Menschen, versteckte Ursachen anzunehmen, kam Darwin damals unter anderem zu dem Schluss: "Der Glaube an geistige Kräfte könnte leicht zum Glauben an die Existenz eines oder mehrerer Götter führen."

Ganz so weit gehen Taylor und sein Team in ihrem Artikel nicht. Immerhin: "Unsere Ergebnisse", so schließen die Wissenschaftler aus ihrem Krähen-Experiment, "deuten darauf hin, dass diese Verhaltensweisen auf einem komplexen Denken beruhen. Die Fähigkeit zu überlegen, wieso ein unbelebter Gegenstand sich bewegt, wäre in vielen Umweltsituationen eine wichtige Anpassung, wie es das Beispiel mit dem Blätterdach zeigt." Es sei deshalb möglich, dass die Fähigkeit, versteckte Ursachen zu erwägen, im Tierreich deutlich weiter verbreitet ist, als bisher angenommen.

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