In dem veterinärwissenschaftlichen Standardwerk "The Welfare of Pigs" (Springer Verlag 2009) wird daher fast nie zwischen dem Verhalten der wilden und der domestizierten Art unterschieden, sondern über beide ist zu erfahren, dass sie 75 Prozent ihrer aktiven Wachzeit mit Wühlen, Grasen und Erkunden verbringen; dass sie ihre Exkremente fern der Schlafplätze absetzen; dass sie sich zum Schlafen oft kleine Kuhlen graben, diese mit herbeigeschleppten pflanzlichen Materialien isolieren und sich darin bei kaltem Wetter eng aneinanderlegen.
Rangordnungskämpfe, die in der Mast ein großes Problem darstellen und zu Verletzungen führen, kommen in der Natur fast nur während der Paarungszeit vor, wenn Eber um Weibchen konkurrieren. Auch dann versuchen sie es zunächst weniger aggressiv: Sie sträuben die Borsten, umkreisen und stoßen einander mit den Schultern. Wenn dieses sogenannte "limited fighting" nicht funktioniert, können sie zu Bissen übergehen und einander verletzen. Außerhalb solcher Kämpfe aber bekriegen sie sich nicht, beißen einander nicht in die Penisse und fressen einander auch nicht die Schwänze ab.
Die trächtige Sau sondert sich vor der Geburt von der Rotte ab, prüft mehrere Tage lang Standorte und baut dann an ihr geeignet erscheinender Stelle ein Ferkelnest. Erst im Alter von ungefähr zehn Tagen werden die Ferkel dieses Nest immer häufiger verlassen, zu anderen Ferkeln der Rotte Kontakt suchen und mit ihnen spielen. Allmählich findet eine Entwöhnung von Mutter und Milch statt; insgesamt dauert die Säugezeit im Schnitt 14 Wochen. Schafft die Zuchtsau wirklich nicht mehr, was die Wildsau kann?
Das ist wohl ein Mythos. Christina Jais, die die AG Schweinehaltung der bayerischen Landwirtschaftskammer leitet, hält das Problem für nicht sehr verbreitet. Eine Gesäugeverletzung könne auftreten, wenn Sauen wenig Milch haben und die Ferkel stark darum kämpfen. Doch eigentlich liege der Grund für die kürzere Säugezeit der Zuchtschweine anderswo: "Die Ansprüche sind andere: Bei einem Wildschwein geht es um den Arterhalt. Da sind auch mal höhere Ferkelverluste oder beschädigte Zitzen und Gesäugekomplexe möglich, die keine Milch mehr geben.
16 oder mehr Ferkel pro Wurf
Wenn ich aber zwölf saugende Ferkel habe und will, dass alle auch möglichst viel Milch erhalten, dann müssen im Idealfall auch alle Zitzen und Gesäugekomplexe intakt sein." Und bei zwölf Ferkeln sind die Züchtungsanstrengungen ja nicht stehen geblieben: Während die Wildsau im Schnitt sechs Ferkel wirft, verlangt man der Zuchtsau pro Wurf 14 bis 16 oder gar mehr Ferkel ab. Dabei hat sie nur 14 Zitzen. Hier müssen die Landwirte natürlich intervenieren, mit Ferkelmilch und "Ammen" arbeiten und dergleichen.
Die Zuchtsau selbst liegt während der dreiwöchigen Säugezeit in einem Stallabteil, das durch Metallbügel begrenzt wird, wenig länger ist als sie selbst und ihr nicht ermöglicht, sich um die eigene Achse zu drehen. Wiederum wird dies mit dem Wohl des Tieres erklärt: "Zielkonflikte zwischen dem Tierwohl der Ferkel und dem Tierwohl der Muttersau ergeben sich auch bei der Frage der Anwendung eines sogenannten Ferkelschutzkorbes. Dieser behindert zwar den Bewegungsdrang der Muttersau, verhindert allerdings das Erdrücken und damit den frühen Tod der jungen Ferkel. Da ist es schon besser, wenn die Muttersau für drei Wochen fixiert wird, um den kleinen Ferkeln ein gefahrloses Aufwachsen zu ermöglichen", erklärt Albert Hortmann-Scholten die Auffassung der Landwirte.
Doch vielleicht ist die weit verbreitete Angst vor Erdrückungsverlusten nur ein Ergebnis falschen Rechnens. Die Biologin Beate Bünger vom Institut für Tierschutz und Tierhaltung (FLI) Celle hat 16 Jahre lang das Aufzuchtverhalten von Sauen in Kastenständen, erweiterten Bewegungsbuchten und Gruppenhaltung erforscht und verglichen.
"Am Anfang hatten wir auch erhöhte Erdrückungsverluste. Eine Sau, die sich frei bewegen kann, schneidet da fast immer am schlechtesten ab. Aber man darf die Erdrückungsverluste nicht isoliert betrachten! Es gibt auch noch andere Verluste: Ferkel, die am Anfang nicht erdrückt werden, sterben oft einige Tage später aus sehr unterschiedlichen Gründen wie Untergewichtigkeit, schlechte Vitalität, Unterernährung oder Infektionen. Ein kleines untergewichtiges Ferkel - wenn sich die Sau drauflegt, ist es die böse Sau. Wenn sich das mickrige Ferkel aber nicht an der Zitze durchsetzen kann und drei Tage lang auf der Wärmeplatte vor sich hin trocknet, bis es stirbt, ist es einfach ein Abgang. Und wenn man alle Verluste zusammenzählt, ist immer herausgekommen, dass die Verluste bei einer Sau, die sich frei bewegen kann, insgesamt nicht größer sind."