Süddeutsche Zeitung

Tierforschung:Weißbüschelaffen helfen lieber, wenn niemand zuschaut

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Von Katrin Blawat

In einer Gruppe von Weißbüschelaffen ziehen alle Erwachsenen den Nachwuchs gemeinsam groß. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder Erwachsene jedem Affenkind hilft. Vielmehr folgt die Hilfsbereitschaft einem Prinzip, das sich auch in Menschengruppen beobachten lässt: Sind viele mögliche Unterstützer anwesend, stehen die Chancen weit schlechter, dass tatsächlich jemand aktiv wird, als wenn ein Einzelner auf einen Hilfsbedürftigen trifft.

Für eine Studie im Fachmagazin Biology Letters untersuchten Biologen um Rahel Brügger von der Universität Zürich, wie bereitwillig ein erwachsener Weißbüschelaffe Futter an Jungtiere abgab. Bei einem Teil der Experimente befanden sich Artgenossen als Zuschauer in der Nähe, sonst war ein erwachsenes Tier mit einem jungen allein.

Ein makelloser Ruf kann dem Helfer selbst nutzen

Dass in Anwesenheit von Beobachtern die Hilfsbereitschaft besonders groß sein könnte, klingt zunächst plausibel. Schließlich würde ein Affe, der dem Nachwuchs hilft, einen guten Eindruck hinterlassen. Dieser makellose Ruf wiederum kann dem Helfer selbst nutzen, der sich dadurch seinen Platz in der Gruppe und ein hohes Ansehen sichert.

"Pay to stay" - bezahlen, um bleiben zu dürfen - , nennen Soziobiologen dieses in der Tierwelt weit verbreitete Muster. Erstaunlicherweise verhielten sich die Weißbüschelaffen genau entgegengesetzt. War ein erwachsener Weißbüschelaffe allein mit einem Jungtier, gab er dem Futterbetteln des Kleinen häufiger nach und bot auch von sich aus öfter etwas an, als wenn Zuschauer anwesend waren.

Wollte das kinderlose Alttier vielleicht üben, wie es ist, für Junge zu sorgen - und nutzte die Chance, dies in Abwesenheit der Eltern ungestört ausprobieren zu können?

Ausschließen wollen die Biologen diese Erklärung nicht. Doch für wahrscheinlicher halten sie eine andere, die weniger auf den direkten eigenen Vorteil des Alttiers zielt. Vermutlich erkannte der Helfer nicht nur die Not des Kleinen - sondern auch, dass niemand anders zur Stelle war außer ihm selbst, um etwas dagegen zu tun. Inmitten einer großen Gruppe Erwachsener könnte dagegen auch jeder andere aktiv werden. Das minderte offenbar die Bereitschaft, eigene Nachteile zugunsten des hungrigen Affen-Nachwuchses in Kauf zu nehmen.

Ihre Erkenntnisse gewannen die Biologen mithilfe von Tieren, die in Gefangenschaft leben und alle untereinander verwandt sind, wenn auch zum Teil über viele Ecken. Ob sich Weißbüschelaffen in der Natur genauso verhalten, ist nicht sicher.

Bekannt und gut belegt ist ein ähnliches Verhaltensmuster jedoch bereits von einer anderen Primatenart: dem Homo sapiens. Auch Menschen unterliegen dieser sogenannten Verantwortungsdiffusion. Deutlich zeigt sich das nach einem Unfall, wenn viele Menschen um das Opfer herumstehen, aber niemand etwas tut. Trifft dagegen ein Einzelner auf einen Verletzten, sind die Chancen viel höher, dass dieser schnell Hilfe erfährt.

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Quelle:
SZ vom 11.04.2018
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