Tierforschung:Die Intelligenz-Bestien

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In Indien starb jetzt eine Schildkröte mit 256 Jahren. War sie das klügste Wesen auf Erden? Oder ist das Tier noch dümmer als der Mensch?

Marcus Jauer

Im Zoologischen Garten von Kalkutta lebte einmal eine Schildkröte. Die Menschen hatten ihr den Namen "Adwaitya" gegeben, was so viel wie "die Einzigartige" bedeutet, obwohl man nicht sagen kann, dass sie etwas beherrschte, das den Namen rechtfertigte, im Gegenteil. Die meiste Zeit verbrachte sie vor einer Schale Gemüse und Weizenkleie, nachdenklich kauend und freundlich gegen jedermann.

Ein neunzehn Tage altes Gorilla-Baby in einem schwedischen Zoo. Forscher glaubten zwischenzeitlich, Gorillas könnten sprechen. (Foto: Foto: Reuters)

Älter als die Eisenbahn

Es gab im Zoo niemanden, der sie je anders gesehen hätte, noch sagen konnte, wie sie in ihr Gehege gelangt war. Sie schien immer schon da gewesen zu sein, was naturgemäß unmöglich war, auch wenn das für den Pfleger, seinen Vorgänger und auch den Vorgänger des Vorgängers so aussehen musste. Vor wenigen Tagen ist die Schildkröte gestorben. Sie wurde 256 Jahre alt. Sie war das älteste Tier der Welt.

Als sie 1750 an einem Strand des Aldabra-Atolls, das zu den Seychellen gehört, aus einem Ei schlüpfte, gab es auf der Erde noch kein Dynamit, keine Eisenbahn, keine künstlichen Zähne, und die Vereinigten Staaten von Amerika gab es auch noch nicht. Es war das Jahr, in dem Johann Sebastian Bach starb.

Geschenk für die Eroberung Bengalens

Die Schildkröte trieb sich erst mal eine Weile im Indischen Ozean und auf dem Atoll herum, bis sie schließlich von britischen Seefahrern aufgegriffen und General Robert Clive zum Geschenk gemacht wurde, dem Mann, der ganz Bengalen für England erobert hatte, seine Schwermut jedoch nie besiegen konnte. Er nahm sich später das Leben, und eine wohlhabende, jüdische Familie aus Kalkutta kümmerte sich fortan um seine Schildkröte.

Als sie 1876 in den Zoologischen Garten gebracht wurde, gab es auf der Erde noch kein elektrisches Licht, keinen Teebeutel und keine Atombombe, die Eissorte "Strawberry Cheesecake" war nicht erfunden und Franz Kafka hatte noch keine Zeile geschrieben. Es war das Jahr, in dem das Telefon patentiert wurde. Was in den folgenden 130 Jahren noch hinzukam, dürfte soweit bekannt sein.

Auto, Kontaktlinsen, Weltkrieg, Fernsehen, Beckenbodengymnastik, Elektroschock, Klingelton, Pendlerpauschale, Heuschnupfen und zuletzt Kurt Beck. Wahrscheinlich hat noch kein anderes Lebewesen der Zeit länger dabei zugesehen, wie sie verging, und der Welt länger dabei zugesehen, wie sie entstand, als eben diese Schildkröte. Was folgt jetzt daraus?

Das weiß man eben nicht. Es kann sein, dass jemand, der so lange auf der Welt ist, irgendwann angefangen hat über sie nachzudenken und dabei auf Dinge kam, die uns, die wir nicht so lange leben, immer ein Rätsel bleiben werden. Es kann allerdings auch sein, dass es jemand auf der Welt überhaupt nur so lange aushalten kann, weil er eben nicht damit anfängt, über sie nachzudenken.

Gefährliche Delikatesse? Kodiak-Bär im Duisburger Zoo. (Foto: Foto: dpa)

Das sind die beiden Möglichkeiten. 256 Jahre und kein einziger Gedanke, nur Leere, Dunkel und Stumpfsinn. Oder 256 Jahre und unendlich viele Gedanken, überall Tiefe, Licht und Weisheit. Was stimmt nun?

"... und danke für den Fisch!"

Die Frage, wie es wirklich im Kopf der Schildkröte aussah, hätte sie selbst natürlich am besten beantworten können. Vermutlich hätte sie das aber, auch wenn sie noch leben würde, nicht getan. Tiere sprechen nicht mit Menschen. Das kann heißen, dass sie nichts wissen. Es kann aber auch heißen, dass das, was sie wissen, ein Geheimnis bleiben soll. Man weiß es eben nicht. Oder ist man nur zu blöd?

In dem ersten Roman seiner Reihe "Per Anhalter durch die Galaxis", der Ende der siebziger Jahre erschien, beschreibt Douglas Adams die Zukunft der Erde, zumindest bis zu dem Moment, wo sie von Außerirdischen zerstört wird. Die Menschen, von denen alle bis auf einen alleinstehenden, melancholischen Engländer sterben, nehmen bis dahin an, sie seien die intelligenteste Lebensform des Planeten, viel intelligenter beispielsweise als Delfine.

Die Menschen glauben das, weil sie vieles zustande gebracht haben, Dinge wie das Rad, New York oder Krieg, während Delfine den ganzen Tag nichts anderes tun als durchs Wasser zu toben und es sich wohl sein zu lassen. Umgekehrt nehmen auch die Delfine an, sie seien intelligenter als Menschen, und zwar aus genau den gleichen Gründen.

Der Roman handelt davon, dass die Vogonen, eine der unangenehmsten Rassen des Universums - bürokratisch, aufdringlich, übellaunig und gefühllos - eine Hyperraum-Umgehungsstraße durch das Weltall planen. Dabei ist ihnen die Erde im Weg. Die Delfine erfahren das als Erste und versuchen, die Menschen zu warnen.

Vogonischer Bautrupp im Reifen

Vergeblich. Ihre Botschaften werden missgedeutet, entweder als rührendes Bemühen, einen Ball mit der Schnauze zu treffen oder nach Leckereien zu jagen. Schließlich geben die Delfine auf. Als dann gegen die Mittagszeit ein vogonischer Bautrupp die Erde sprengt, haben die Delfine sie längst verlassen. Kurz zuvor hatten alle einen erstaunlichen doppelten Salto rückwärts durch einen Reifen vollführt und dabei eine Melodie gepfiffen, die sich nach "Heil dir im Siegerkranz" anhörte.

Die Menschen waren begeistert, sie hielten es für ein Kunststück. In Wahrheit war es ein letzter Gruß. "Macht's gut und danke für den Fisch!" Der melancholische Engländer, den es durch Zufall auf ein vogonisches Raumschiff verschlägt, muss später erkennen, dass die ganze Erde ein riesiger Computer ist, der von den Mäusen in Auftrag gegeben wurde. Er soll für sie die Frage aller Fragen berechnen, die Antwort haben sie bereits:

Sie lautet 42. Bis er soweit ist, verbringen sie die Zeit in Laufrädern von Forschungslabors und beobachten, wie die Menschen auf ihre Experimente reagieren. Denn eigentlich sind sie die intelligenteste Lebensform auf der Erde.

Natürlich ist das alles ausgedacht. Wenn ein Mensch ein Tier ins Laufrad schickt, ist selbstverständlich er es, der das Experiment macht und nicht etwa umgekehrt. Er möchte das Tier begreifen, er möchte wissen, ob, wie und was es denkt und nicht umgekehrt. Es kann allerdings sein, dass er am Ende mehr über sich erfährt als über das Tier.

Aus den Händen lesen

Das Gorillaweibchen "Koko" gilt als einer der Affen, die die menschliche Sprache am besten verstehen. Sie wurde 1971 in San Francisco geboren, dort lebt sie in einer Station, zusammen mit Penny Patterson, der Affenforscherin, in deren Obhut sie aufwuchs. Gorillas sind, wie alle anderen Tiere, nicht in der Lage, zu sprechen, ihr Stimmapparat ist dafür nicht geeignet, was die Wissenschaft, nachdem sie zwanzig Jahre mit absurden Versuchen an den verschiedensten Rassen verbracht hatte, schließlich einsah.

Auch "Koko" spricht nicht, aber ihre Hände sprechen. Seitdem sie ein Jahr alt ist, unterrichtet Penny Patterson sie in Gebärdensprache, derzeit beherrscht sie eintausend Gesten, die sie, wenn sie muss, auch miteinander kombinieren kann. Einmal gaben ihr die Ausbilder ein Zebra aus Plüsch in den Käfig, die Geste für "Zebra" aber behielten sie für sich.

Als sie "Koko" danach fragten, was sie denn da in ihren Händen halte, antwortete sie mit zwei Gesten. Eine stand für "weiß", die andere für "Tiger". Ein weißer Tiger. Man muss zugeben, dass ein Zebra selten schöner beschrieben worden ist. Es sah so aus, als würde dieser Gorilla verstehen, was die Menschen ihn fragten, und als würde er mit dem, was er antwortete, auch etwas meinen. Es sah aus, als gebe es jetzt einen Weg herauszufinden, was im Kopf eines Tieres vorgeht.

Einmal fragten "Koko" die Ausbilder, wohin Gorillas gehen, wenn sie sterben.

Koko: Angenehm Nest Heia

Ausbilder: Wann sterben Gorillas?

Koko: Problem alt

Heute erscheint kaum noch ein wissenschaftliches Buch zur Intelligenz der Tiere, das "Koko" nicht anführt. Penny Patterson hält den Affen für einen Botschafter. Sie betreibt eine eigene Internetseite, auf der man sieht, dass "Koko" malt, eine Brille trägt und sich Katzen als Haustiere hält. Es gibt Poster, Videos und T-Shirts zu kaufen, und man kann spenden.

Der Gorilla als Nippel-Fetischist

Als "Koko" einmal mit Hilfe von Penny Patterson zum Internetchat lud, wollten achttausend Leute mit ihr reden. Das Gespräch drehte sich anfangs um Süßigkeiten, während es dem Gorilla am Ende erstaunlich oft um "Nippel" ging. Patterson erklärte, "Koko" zeige zwar die Geste für "Nippel", meine aber "Menschen". Es war trotzdem irgendwie seltsam. Man fragte sich, woher sie das nur hatte.

Vor einem Jahr dann wurde Penny Patterson wegen sexueller Belästigung angezeigt. Zwei ehemalige Ausbilderinnen behaupteten, man habe von ihnen wiederholt verlangt, dem Gorilla ihre Brüste zu zeigen. Sonst würden sie ihren Job verlieren. Laut dem Polizeiprotokoll hatte Penny Patterson zu "Koko" gesagt: "Du hast meine Nippel die ganze Zeit gesehen. Du bist sicher gelangweilt von meinen Nippeln. Du musst neue Nippel sehen." "Koko", eine Nippel-Fetischistin?

Vielleicht ist das ihr Geheimnis gewesen, dann lernte sie sprechen und plauderte es aus. Vielleicht war es aber auch bloß Penny Pattersons Geheimnis. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat sich vor dreißig Jahren einmal die Frage gestellt, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Fledermäuse orientierten sich über Sonar, sie senden hohe Schallwellen aus, und die Welt zeigt sich ihnen über das Echo, das sie von ihr auffangen.

Menschen haben solch einen Sinn nicht, aber sie wissen, wie er funktioniert. Man könnte annehmen, das genügt, um zu wissen, wie es sich für eine Fledermaus anfühlt, wenn sie ihn einsetzt. Thomas Nagel hat darüber einen langen und inzwischen berühmten Aufsatz geschrieben, er kam darin auch zu einem Ergebnis.

Lachse für die Bären

Man weiß es eben nicht. Timothy Treadwell ist Surfer gewesen, Barmann und Schauspieler, nichts in seinem Leben hatte er ausdauernd betrieben, nur das Trinken. Damit war er, Anfang dreißig, inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem man entweder daran stirbt oder damit aufhört. Er hörte damit auf, er verließ Malibu und ging nach Alaska in einen Nationalpark, um dort unter Bären zu leben. Er meinte, sie bräuchten seinen Schutz. Er zeltete einen Sommer unter ihnen, von da an kam er jeden Sommer wieder und näher an sie ran.

Er folgte ihnen, gab ihnen Namen, sah zu, wenn sie Lachse fischten, miteinander kämpften. Wenn ihnen Futter fehlte, und sie begannen, ihre Jungen zu fressen, weinte er. Wenn sie ihm zu nahe kamen, sagte er, dass er sie liebe. Wenn er einen frischen Haufen Bärenscheiße fand, hielt er seine Hand darüber, um die Wärme zu spüren. "Alles an ihnen ist perfekt", sagte er.

Timothy Treadwell hat nicht mit Bären geredet, um zu erfahren, was sie wissen, er wollte mehr, er wollte sein wie sie. Am Ende seines dreizehnten Sommers, es war der Oktober des Jahres 2003, wurde er von einem von ihnen getötet. Werner Herzog hat über ihn eine Dokumentation gedreht, in Amerika lief sie bereits, man kann nur hoffen, dass sie nach Deutschland kommt.

"Grizzly Man" ist einer der schönsten Naturfilme, die je gemacht wurden. Herzog hat darin Menschen interviewt, die Timothy Treadwell kannten, mit ihm befreundet waren oder ihm halfen. Kaum einer von ihnen hat verstanden, was er bei den Bären suchte.

Der essbare Bär

Einer der Piloten, die ihn geflogen haben, sagt, Treadwell habe Bären behandelt, als steckten darin verkleidete Menschen. Er sagt, der einzige Grund, warum er so lange da draußen überlebt habe, sei, dass die Bären dachten, irgendetwas stimme nicht mit ihm, er sei wahnsinnig. Bis es eines Tages bei einem Bären plötzlich "Klick" gemacht habe im Kopf, und er dachte: "Hey, he might be good to eat!"

Als die Männer sich schließlich aufmachen, ihn zu suchen, finden sie bei seinem letzten Lagerplatz einen Bären und erschießen ihn. Wie allen Bären des Nationalparks hatten Ranger ihm eine Nummer eintätowiert, Bär 141. Aus ihm holte man raus, was übrig geblieben war: "Vier Müllsäcke Mensch", sagt der Pilot.

Timothy Treadwell hatte eine Videokamera dabei, wenn er in die Wildnis ging. Er filmte, wie er Bärenjunge streichelt, wie Füchse ihm durch die Prärie nachlaufen, wie er im Zelt liegt, einen Teddy im Arm. Er redet oft mit der Kamera. Er sagt, dass er glücklich sei und dass er sterben würde für all das hier. Einmal steht er am Ufer eines Sees, ein Bär schwimmt darin, er kommt ihm entgegen, Treadwell bleibt stehen, keinen Meter ist er von ihm weg, vorsichtig berührt er ihn, der Bär dreht sich, riecht an ihm, dann geht er an Land.

Es ist einer der Momente, in denen man denken könnte, dass es ein Einverständnis gegeben hat zwischen ihnen. In seinem Film hat Werner Herzog viele der Szenen, die Timothy Treadwell gedreht hat, benutzt. Am Ende ist da das Gesicht eines Bären, er sitzt an einem Bach, nicht weit entfernt, einige Sekunden lang schaut er in die Kamera. Ein großer Kopf und zwei leere, dunkle Augen, Bär 141. Es sind Treadwells letzte Bilder, aber es ist Herzog, der sie kommentiert.

"In allen Gesichtern von allen Bären, die er jemals gefilmt hat, erkenne ich keine Seelenverwandtschaft, kein Verständnis, keine Gnade, nur die überwältigende Gleichgültigkeit der Natur." Timothy Treadwell hielt die Bären für Freunde. Werner Herzog hält sie bloß für Mörder. Aber es sind beides nur Annahmen. Sieht man den Film, scheint mal die eine und mal die andere zu stimmen. Vielleicht stimmen aber auch beide.

Man weiß es eben nicht. Menschen und Tiere werden einander fremd bleiben, wie einem alles fremd bleibt, was man nicht selbst ist, und das man genau darum auch nie verstehen wird. Es gibt Leute, die waren zwölf Sommer mit jemandem zusammen und sind im dreizehnten von ihm gefressen worden. Das kann heißen, dass man einander nur in dem einen Moment nicht verstanden hat. Oder die ganze Zeit davor.

Der Zoo von Kalkutta hat den Panzer seiner Schildkröte inzwischen in ein Labor bringen lassen. Mit irgendeiner naturwissenschaftlichen Methode kann man sicher feststellen, wie alt sie wirklich war. Ob der Panzer ihr aber half, ein Geheimnis zu bewahren oder nur verbarg, dass sie keines hatte, erfährt man so nicht.

"Immer wenn man ein Tier genau betrachtet", hat Elias Canetti mal gesagt, "hat man das Gefühl, ein Mensch, der drin sitzt, macht sich über einen lustig."

Es könnte aber auch ein Tier sein.

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