Süddeutsche Zeitung

Tics bei Kindern:"Nase rümpfen, Kopf zucken, Mund zur Seite ziehen"

Lesezeit: 3 min

Der Neuropsychiater Alexander Münchau hat durch Zufall bei einem Kinderchor auffallend viele Tics beobachtet. Er rät Eltern zu Entspannung, wenn Kinder scheinbar zwanghaft Bewegungen wiederholen.

Interview von Nadeschda Scharfenberg

Alexander Münchau ist Professor für Neuropsychiatrie an der Universität zu Lübeck. Bei einem Konzertbesuch hat er eine interessante Beobachtung gemacht - und sich zu einer Spontan-Studie entschieden.

SZ: Was war da los in dem Konzert?

Alexander Münchau: Ein berühmter Knabenchor hat Bachs Weihnachtsoratorium gesungen. Ich saß in der zweiten Reihe, Mitte. Ich wollte schon immer diesen Chor hören, da dachte ich mir, ich leiste mir gute Karten. Als die Sänger sich aufgestellt hatten, ist mir ein Kind ganz vorne aufgefallen.

Was genau hat es gemacht?

Nase rümpfen, Kopf zucken, Mund zur Seite ziehen. Ich beschäftige mich seit fast 20 Jahren mit Tic-Forschung und habe zunächst gedacht, okay, ist mir sehr vertraut. Da fällt mein Blick auf einen Jungen in der zweiten Reihe, der sehr viel gezwinkert hat.

Ihr Forscher-Interesse war geweckt.

Ich dachte mir, ich nutze die Zeit und schaue mir die 40 Knaben im Sopran und Alt genauer an. Und zwar immer dann, wenn die Kinder gerade nicht singen.

Während der Arien und Rezitative also.

Ja, denn man weiß: Wenn jemand sich auf etwas konzentriert, zum Beispiel aufs Singen, dann ticct er eher nicht. Tics treten auf, wenn sich jemand langweilt. Oder wenn er angespannt ist, aber nicht auf eine Tätigkeit fokussiert. Ich habe jeden Jungen ein paar Minuten beobachtet und innerlich notiert, wie viele sich auffällig bewegen. 14 von 40 hatten Tics - das sind 35 Prozent.

Das ist viel. In der Literatur heißt es, dass etwa zehn Prozent der Kinder vor der Pubertät ticcen. Müssen die Eltern der Sängerknaben sich Sorgen machen?

Im Gegenteil! Eigentlich ist die Aussage meiner Spontan-Studie: Wenn die, die so wunderschön singen können, Tics haben, dann kann das ja nicht so schlimm sein.

Nicht so schlimm oder sogar richtig gut?

Aus meiner Beobachtung im Konzert lässt sich ableiten, dass das Vorkommen von Tics bei den Jungen offenbar nicht zu einer Störung ihrer motorischen Fertigkeiten geführt hat. Das Ticcen steht womöglich sogar in einer Beziehung zu ihrer außerordentlichen musikalischen Leistung. Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen mit Tics besser lernen, dass ein Tic auch Zeichen einer Befähigung und nicht nur einer Störung sein kann. Da möchten wir weiter forschen.

Das ständige Wiederholen einer Bewegung macht also nichts kaputt?

Das Gehirn nimmt keinen Schaden. Die meisten Kinder hören nach ein paar Monaten wieder auf zu ticcen, man kann das entspannt angehen. Wer die Extra-Bewegungen grundsätzlich als Störung bezeichnet, verkennt die Funktionsweise unseres Gehirns: Kinder bewegen sich prinzipiell überschüssig, sie erlernen ihre motorischen Fähigkeiten durch Wiederholung. Wenn das Kind allerdings gehänselt wird, dann sollten die Eltern versuchen, Tics im Gespräch mit der Schule zu entdramatisieren. Manchmal sind Tics auch so unangenehm, dass man sie behandeln sollte.

Wie ist das bei Erwachsenen? Haben Sie auch die Tenöre und Bässe beobachtet?

Dazu hatte ich keine Zeit mehr.

Was ist denn mit dem Kollegen im Büro, der sich alle 90 Sekunden räuspert?

Erwachsene haben deutlich seltener Tics als Kinder, man geht aber immer noch von bis zu 0,5 Prozent aus. Die Chance, dass man jemanden mit Tic trifft, ist nicht ganz gering. Man muss sich nur in der Bahn umschauen, wer da hüstelt, blinzelt, brummt.

Das kann schrecklich nerven, wenn das Gegenüber im Büro vor sich hin grunzt.

Mein Tipp: schalldichte Kopfhörer.

Wissen die Räusperer, dass sie ticcen?

Die meisten wohl nicht. Wenn man sie anspricht, sind sie oft erstaunt und suchen Erklärungen wie chronische Erkältung.

Es gibt Prominente, die relativ offen mit ihren Tics umgehen. David Beckham zum Beispiel erträgt es nur, wenn eine gerade Zahl an Lebensmitteln im Kühlschrank ist.

Das ist kein Tic, sondern wohl eher ein Zwang. Ein Tic ist eine überschüssige Bewegung oder Lautäußerung, ein Zwang ein komplexer Ablauf, der aus einer inneren Notwendigkeit heraus geschieht. Aber solche Zwänge sind mit Tics eng verwandt, viele Menschen mit Tics haben auch Zwänge. Beckhams Angewohnheit könnte auf eine Arithmomanie hindeuten: Die Betroffenen beschäftigen sich übermäßig mit Zahlen, fühlen sich zum Beispiel gezwungen, bestimmte Dinge immer abzählen zu müssen.

Zurück zum Thema Musik: Eminem sagt, er habe das Tourette-Syndrom, deshalb seien seine Texte so vulgär.

Na ja! Okay, es gibt Touretter, die unkontrolliert vulgäre Ausdrücke benutzen, man nennt das Koprolalie. Aber ganz viele machen das nicht. Das Wesen von Tourette ist nicht Obszönität, sondern Überschuss.

Und Mozart? Der soll Grimassen geschnitten und vor sich hin geschimpft haben.

Vielleicht hatte der auch Tourette, das wird man nicht mehr herausfinden können. Ich glaube eher, dass Mozart auch ADHS hatte, eine Impulskontrollstörung. Man kann das aber auch so sehen: Ohne Impulsivität wird man kein Künstler.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3846932
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 31.01.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.