Süddeutsche Zeitung

Terrorismus:Böse Gehirne

Wie kommt es dazu, dass junge Männer plötzlich Massaker auf den Straßen veranstalten? Wahnsinnig sind sie jedenfalls nicht, sagt die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh.

Interview von Christian Weber

Die Diskussion flammt immer wieder auf, wenn eine schreckliche Gewalttat geschehen ist. Wer bloß kann so etwas machen? Das muss doch das Werk von Wahnsinnigen sein. Doch der genaue Blick der Wissenschaft kommt zu anderen Ergebnissen, wie die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh erläutert.

SZ: Das müssen Bestien, Monster, Irre sein - solche Sätze sind nach dem Massaker in Paris wieder häufiger zu hören. Haben wir es hier mit psychisch Kranken im klinischen Sinne zu tun?

Saimeh: Nein. Zwar sind terroristische Ausbildungslager für dissoziale, psychopathische junge Männer anziehend. Diese Orte sind ein Eldorado der hemmungslosen, sadistischen Gewaltausübung. Sie können dort morden und vergewaltigen, und das noch mit Absolution. Außerdem entspricht Gewalt und Terror dem hypermaskulinen Rollenstereotyp von Härte und Unerschrockenheit. Aber auch diese Leute sind keine "Irren" im volkstümlichen Sinne. Sie haben nicht den kompletten Bezug zur Realität verloren, wie es bei Psychosen oder Schizophrenien der Fall sein kann.

Gilt das auch für die Mörder von Paris?

Ja. Die aktuellen Taten oder erst recht Aktionen wie die Anschläge von 9/11 in New York verlangen ja eine langfristige Planung, eine ausgereifte Logistik, überhaupt ein sehr überlegtes Vorgehen. Es gibt Ziele, Strategien, Taktiken - dafür brauchen sie beträchtliche psychische Stabilität. Der Verdacht, nur Wahnsinnige könnten so morden, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass wir seit 70 Jahren eine historisch einzigartige Zeit des friedlichen Zusammenlebens erfahren haben. Wir halten blutige Gewalt für unnormal. Dabei muss man nur an die Nazizeit zurückdenken, da haben völlig normale Leute schwerste Gräueltaten begangen. Dennoch weist ein großer Teil der verurteilten Gewalttäter in Strafvollzugsanstalten psychische Störungen auf.

Das ist sicher richtig, aber es sind in der Regel Persönlichkeitsstörungen wie etwa Borderline-Störungen. Aber auch diese Leute haben einen Kontakt zur Realität, auch wenn sie manches verzerrt wahrnehmen. Ich halte es für falsch, jeden Anschlag oder auch nur jedes schwere Gewaltverbrechen medizinisch zu interpretieren. Es lenkt die Diskussion in die falsche Richtung.

Inwiefern?

Die Psychiatrisierung des Terrorismus bagatellisiert ihn, weil er ihn auf die individuelle Pathologie reduziert. Dabei spielen doch auch soziologische, historische, religiöse Gründe eine Rolle. Außerdem impliziert er die Annahme, nur kranke Menschen könnten zu Terroristen werden. Das stimmt aber eben nicht.

Sind Terroristen also einfach Menschen wie du und ich?

Bislang ist keine für Terroristen hochspezifische Persönlichkeitsstörung gefunden worden, aber es gibt strukturell beschreibbare Auffälligkeiten im Denken und in der damit verbundenen persönlichen Entwicklung, nämlich die Radikalisierung und Fanatisierung. Terror basiert auf dem nach außen verlagerten inneren Feind. Was hat man darunter zu verstehen? Kristallisations- und Ausgangspunkt ist fast immer das subjektive Erleben einer massiven Ungerechtigkeit und ein Gefühl von Unterlegenheit und Benachteiligung. Das Ohnmachtserleben des Einzelnen und das einer gesellschaftlichen oder religiösen Gruppe finden zusammen. Die Ursache für diese vermeintliche Unterlegenheit wird immer im Außen verortet. Hinzu kommen paranoid anmutende Verschwörungstheorien. Die Fehlentwicklung lässt sich im Grunde mit dem Prinzip des malignen Narzissmus vergleichen, der in mörderischer Wut und Hass das zu zerstören trachtet, was er als Ursache für die eigene Niederlage und Kränkung ansieht. Es werden Grandiositäts- und Triumphfantasien entwickelt, verknüpft mit Rachsucht. Der Fanatisierte wähnt sich im Besitz der absoluten Wahrheit. Nicht selten delegieren schweigende Mehrheiten solche Wünsche der Genugtuung an radikale Gruppierungen.

Die alte Geschichte? Es geht um arbeitslose junge Männer mit Migrationshintergrund und düsteren Zukunftsaussichten etwa in den trostlosen Vorstädten von Paris, die sozial nicht integriert sind und irgendwann islamistischen Hasspredigern auf den Leim gehen?

So einfach ist es eben nicht! Schließlich driften auch Mittelschichtskinder in die islamistische Szene ab. Man darf die realen Sozialfaktoren nicht überschätzen: Mohammed Atta zum Beispiel, einer der Hauptattentäter des 11. September, war ja Student, und ihm stand eine bürgerliche Zukunft offen. Anfällig für Radikalisierung sind vor allem Menschen, die mit der modernen Gesellschaft nicht zurechtkommen.

Warum eigentlich? Sie ist doch mit all ihren Möglichkeiten und Freiheiten auch recht attraktiv.

Aber manche sind von ihr überfordert. Unsere moderne Gesellschaft ist sehr komplex. Es gibt eine große individuelle Freiheit, und die existierenden Normen und Werte erfordern eine kritische Reflexionsfähigkeit und Selbststeuerung. Dazu gehört, dass man Widersprüche und Unzulänglichkeiten als Teil der Realität aushält, in sich selbst und in der Umwelt. Menschen müssen Ambivalenzen ertragen, mit Kritik umgehen, sich selbst in einem realistischen Bezug zur Umwelt sehen. Das erfordert eine hohe Ich-Stärke. Jeder Einzelne muss reflektieren, dass nicht alles, was getan werden kann, auch getan werden soll. Es verlangt ein differenziertes Gefühl für sich selbst, man muss innere Zustände strukturieren können.

Können Sie ein Beispiel geben?

Immer wieder wird angeführt, die westliche Gesellschaft bestehe aus einem zügellosen Leben aus sexueller Promiskuität und Drogenkonsum. Diese Zuschreibung verkennt völlig, dass dem Einzelnen ein hohes Maß an Entscheidungsfähigkeit über die Geschicke seines Lebens zugemessen wird. Bei uns geht es in der Sexualmoral nicht um "Sitte", sondern um Selbstbestimmung - eine große zivilisatorische Errungenschaft in meinen Augen. Doch manche Menschen kommen mit dieser Freiheit eben nicht zurecht.

Wie führt dieses Unbehagen in der Gesellschaft zum Gebrauch von automatischen Waffen?

Es ist natürlich ein langer Weg der Radikalisierung, der im Fall des islamistischen Terrorismus meist von begnadeten Demagogen angefeuert wird. Diese zeigen übrigens in der Tat häufig psychopathische Züge. Psychopathen sind ja bekannt für ihre manipulativen Fähigkeiten. Die Hassprediger jedenfalls zeigen den unsicheren und gekränkten Menschen einen Weg, wie man diesen intrapsychischen Spannungszuständen entkommt. Sie beseitigen Ambivalenzen und Vielschichtigkeiten. Stattdessen wird eine unumstößliche, nicht kritisierbare Wahrheit gesetzt, die im Islamismus der nicht hinterfragbare Koran ist. Das führt zu Reduktion von Komplexität und damit zu Abnahme von Angst und innerer Unsicherheit. Hinzu kommt, dass der radikalisierte Mensch ja auch Mitglied einer großen Gemeinschaft wird, in der er sich verstanden und zugehörig fühlt. Das alles ist sehr attraktiv.

Aber woher kommt die Aggression gegen andere Menschen?

Der Mensch muss ja irgendwohin mit seinen negativen Anteilen. Die werden nun im Radikalisierungsprozess nach außen projiziert, alles Übel wird außen verortet. Die Welt wird dann in Gut und Böse unterteilt, in Schwarz und Weiß, Freund und Feind - die Grauzone wird beseitigt. So entsteht eine innere strukturelle Festigkeit, das ist der Kitt für ein fragiles Selbst. Menschen, die einen solchen Halt brauchen, sind anfällig für Radikalisierung, egal ob sie aus der Unter- oder Mittelschicht kommen, ob sie gebildet oder ungebildet sind. Diese Prozesse kann die Wissenschaft mittlerweile ganz gut beschreiben. Die forensische Psychiatrie und Psychologie kann deshalb mit einer gewissen Sicherheit einschätzen, ob sich manche Menschen radikalisieren werden. Und die Radikalisierten müssen dann zwangsläufig ihren Feind angreifen?

Ja, das ist nur logisch. Wenn die Umwelt unmoralisch und verdorben ist, dann muss man den Feind beseitigen, damit man in einer reinen Welt leben kann. Hinzu kommt ja, dass die islamistischen Demagogen dem Täter, insbesondere dem Selbstmordattentäter grandiose Versprechungen machen, die tatsächlich geglaubt werden: Er wird als Märtyrer ins ewige Paradies eingehen, dort wird er sexuell beglückt werden.

Unterscheidet sich der religiöse Terrorismus damit vom politischen?

Weniger als man erwarten könnte. Im politischen Terrorismus gibt es zwar keinen Gott, aber der politische Führer nimmt eine ähnlich absolute Bedeutung ein. Und all die anderen innerpsychischen Gratifikationsmechanismen wirken wohl ähnlich.

Welche sind das?

Im terroristischen Akt erlebt der Täter eine Grandiosität, die kaum zu übertreffen ist. Das Töten von Menschen ist ja eine exklusive Lebenserfahrung, die Gewalttätigkeit verleiht dem Täter einen gottgleichen Status. Er geht schwer bewaffnet los, die Kalaschnikow in der Hand, und es bleibt völlig ihm überlassen, ob er jetzt in das Café auf der rechten Seite der Straße schießt oder in das Café auf der linken Seite. Sagt er, ach, heute links, dann sterben die auf der linken Seite, und die auf der rechten Seite überleben. Das ist maximale Selbstwirksamkeit, ein grandioses Gefühl, eine Art soziales Potenzerleben. Das kann sich zu einem regelrechten Blutrausch steigern. Zudem erlebt der Täter die Ästhetik des absoluten Tabubruchs. Das hat ja auch seinen Reiz, Grenzen komplett zu durchbrechen. Und dabei tut er noch das moralisch absolut Richtige!

Aber das Blut auf der Straße, die zerfetzten Körper, die Schreie der Opfer - gibt es da keine Hemmungen, die wirken?

Die Opfer sind im Blick des Fanatikers keine Menschen mehr. Zuvor hat ein Prozess der Dehumanisierung stattgefunden, in dem die feindlichen Menschen zu Ungeziefer, Dreck und Schmutz erklärt wurden. Solche Prozesse kennt man ebenso aus Ruanda wie aus Nazi-Deutschland. Da werden nicht ebenbürtige Menschen getötet, sondern es wird "Ungeziefer" vernichtet. Haben Sie noch nie eine Fliege getötet? Im Dritten Reich begingen an sich rechtstreue Bürger abscheuliche Gewalttaten und sagten: Ist nicht schön, aber irgendjemand muss es ja machen. Tötungsbereitschaft ist dem Menschen grundsätzlich zu eigen. Die christlichen Kreuzzüge sind so lange auch nicht her. Das Gruselige beim "Islamischen Staat" ist nur, dass er mit modernster Technik in eine vormoderne Zeit zurückwill. Zu erklären ist eher, wie der Mensch es geschafft hat, sich überhaupt einigermaßen zu zähmen.

Frauen scheinen es ja weitgehend geschafft zu haben, sie finden sich eher selten in Terrorbanden.

Gewaltkriminalität ist nun mal eine klassische männliche Domäne. Testosteron und Gewalttätigkeit stehen in einer engen Beziehung. Daher ist Gewalttätigkeit vor allem ein Problem junger Männer in jeder Gesellschaft. Zudem ermöglicht die Rolle der Frau eher, mit sozialer Unwirksamkeit und Kränkungen umzugehen. Außerdem ist das Gesellschaftsmodell des IS für Frauen ja nicht so attraktiv.

Der Psychologe Steven Pinker will einen andauernden Zivilisationsprozess beim Menschen belegt haben.

Insgesamt stimme ich dem zu.

Wie sollten wir aus Ihrer Sicht dem Terrorismus begegnen?

Der Terrorismus stellt unsere Gesellschaft auf die Probe. Der Rechtsstaat an sich muss sich als verteidigungsfähig erweisen. Es muss eine Zero Tolerance für Radikalisierung jedweder Richtung geben. Es geht um ein friedliches Zusammenleben aufgeklärter Gesellschaften. Aber wir müssen als Gesellschaft gemeinsam Anstrengungen unternehmen, keine Verlierer zu produzieren. Es geht auch darum, Menschen, die Angst vor dem Verlust des sozialen Anschlusses haben, Gehör zu geben. Wir müssen die Entwicklung unserer Werte erklären. Es geht nicht um die Frage, ob jemand einen Migrationshintergrund hat oder nicht, es geht um die Bindung der hier lebenden Menschen an die Entwicklung der Geistesgeschichte seit der Aufklärung. Darin ist immer noch viel Platz für persönliche Religiosität.

Andererseits scheinen die modernen westlichen Gesellschaften relativ resilient zu sein. Die Anschläge von Barcelona und London scheinen vergessen zu sein, die Touristen fahren wieder hin.

Seit 9/11 konnte man klar beobachten, dass die Taktik des internationalen Terrorismus ist, das tägliche zivile Leben anzugreifen. Darauf kann man sich nicht einstellen. Ich werde deshalb auch weiterhin regelmäßig nach Paris fahren.

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Quelle:
SZ vom 21.11.2015
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