Urintherapie:Harn-Trank

Eigentlich entsorgen wir mit dem Urin Abfallstoffe unseres Körpers. Für manche Anhänger alternativer Heilverfahren aber ist er ein Wundermittel voller Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente.

Colin Goldner

Gepriesen als Wundermittel aus der "Apotheke der Natur" wird unter Anhängern alternativer Heilverfahren der sogenannten Urintherapie großer Wert zugemessen.

Urintherapie: Nein, das ist kein Apfelsaft.

Nein, das ist kein Apfelsaft.

(Foto: Foto: AFP)

Dabei wird nicht nur der eigene Urin, sondern wahlweise auch der von Kühen, Schafen oder sonstigen Tieren auf die Haut aufgetragen, intramuskulär injiziert oder getrunken.

Eine urintherapeutische Behandlung, wie es in einem einschlägigen Lehrbuch heißt, sei "höchst effektvoll bei allen Erkrankungen, denen eine allergische Veranlagung zugrunde liegt, vor allem bei Autoimmunerkrankungen."

Der Vorteil liege in der Wirtschaftlichkeit und in der einfachen Anwendung. Überdies sei bei einem Einsatz von Eigenurin keine Allergentestung vonnöten.

Anderweitig wird vor allem bei entzündlichen Erkrankungen zur Urintherapie geraten: "Ein besseres Mittel, das Entzündungen hemmt, reinigt und desinfiziert, dazu die Temperatur senkt und das alles ohne Nebenwirkungen, gibt es in einer Apotheke nicht zu kaufen."

Zudem ist Urin angeblich ein hervorragender Träger von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen.

Trinken, injizieren, schnupfen

Auch zur Vorbeugung sowie zur "allgemeinen Energetisierung" wird die regelmäßige Einnahme von Urin - "ein Glas gleich nach dem Aufstehen" - empfohlen. Der erste Strahl am Morgen soll mit der meisten Energie aufgeladen sein - und zur Geschmacksverbesserung wird empfohlen, etwas Zitronen- oder Apfelsaft zuzusetzen.

Wer sich scheut oder ekelt, Urin zu trinken und über keine Möglichkeit der Injektion verfügt, kann zu einer weiteren Einnahmevariante greifen: Der Urin wird mit Hilfe des kleinen Fingers in beide Nasenlöcher eingeschnupft und dies etwa drei- bis viermal wiederholt.

Diese Möglichkeit bietet sich an, wenn kein Gefäß zur Verfügung steht, indem man den Finger in den Urinstrahl hält - ideal für unterwegs. Die Wirkung stellt sich angeblich bereits nach wenigen Sekunden ein: "Man fühlt sich frischer und energetischer."

Zur allgemeinen "Stärkung des Immunsystems" wird zu regelmäßigen Urin-Fußbädern geraten, die angeblich ganz nebenbei auch Fußpilz, Warzen und Hühneraugen zum Verschwinden bringen.

Zumindest einmal monatlich sollte ein Urin-Vollbad genommen werden. Hierzu benötige man wenigstens zwei Liter Urin pro Wanne, den man zu diesem Zwecke über mehrere Tage hinweg in einem geschlossenen Gefäß sammeln könne, heißt es.

Ernstzunehmende Belege für eine therapeutische Wirkung des Urins gibt es, trotz aller propagandistischen Umtriebe der Urin-Propheten Carmen Thomas und Hans Höting, nicht. Auch die stete Bezugnahme auf irgendwelche "Volksweisheiten" oder auf die "traditionellen Heilersysteme" Indiens, Tibets oder Chinas, in denen Urin in der Tat eine zentrale Rolle spielt, kann diesen Mangel nicht ausgleichen.

Noch nicht einmal der unvermeidliche Hinweis auf den früheren indischen Ministerpräsidenten Morarji Desai, der täglich eine Tasse Eigenurin getrunken habe und 99 Jahre alt geworden sei, sagt per se etwas aus.

Im besten Fall harmlos

Tatsache ist vielmehr, dass der Urin-Konsum im besten Fall harmlos sein kann, jedoch grundsätzlich das Risiko von Infektionen oder Vergiftungserscheinungen besteht. Schließlich führt man über das Urin-Trinken bereits ausgeschiedene Abfallprodukte des Stoffwechsels in den Körper zurück, was bei größeren Mengen letztlich wie eine Unterfunktion der Niere wirken kann.

Und die szenetypische Behauptung, Urin sei "medizinisch steril", seine Verwendung könne insofern als "Basistherapie bei fast allen Leiden" gelten, ist gefährlicher Unsinn, der auch nicht dadurch relativiert wird, dass das oben erwähnte Lehrbuch einräumt: "Befinden sich im Urin Eiterbeimischungen, verbietet sich die innere Anwendung. Dann lässt sich der Urin höchstens zu homöopathischen Substanzen aufbereiten".

Über den Harnleiter abgelassener Urin ist bakteriell besetzt. Keimfrei wäre er nur dann, wenn er, organische Gesundheit des Spenders vorausgesetzt, durch eine Punktion direkt aus der Blase gewonnen würde. Und je länger der Urin herumsteht, desto höher und damit pathogener wird die Bakteriendichte. Entgegen aller Behauptungen ist auch die externe Behandlung von Allergien oder Neurodermitis mit Urin sehr skeptisch zu sehen, Nachweise für eine entsprechende Wirksamkeit existieren nicht.

Trotzdem wird von Alternativheilern quer durch die Republik die besondere "Heilkraft des Urins" beschworen. In der einschlägigen Literatur ist die Rede davon, Urin helfe gegen "Asthma, Bronchitis, chronische Erkrankungen, Durchfall, Erkältungen und so fort durch das ganze Alphabet", es finden sich hanebüchenste Ratschläge wie uringetränkte Kopfwickel gegen Migräne oder entsprechend präparierte Tampons bei Scheidenentzündung.

Tägliches Gurgeln mit frischem Urin erhalte die Gesundheit von Hals, Nase und Ohren bis ins hohe Alter, Infektionserkrankungen wie Scharlach oder Diphtherie könnten mit Urin einfach weggegurgelt werden.

Besonders empfehlenswert sei es auch, bei Haarausfall die betroffenen Stellen mit Urin einzureiben. Zu diesem Zwecke eigne sich allerdings kein frischer Urin, sondern nur Urin, der zumindest drei Tage in einem luftdicht abgeschlossenen Behältnis gereift sei. Zwei- bis dreimal pro Woche auf den kahlen Stellen verteilt sorge er dafür, dass garantiert neue Haare keimten.

Neben derlei jeder Hygiene spottendem Unfug finden sich auch Maßgaben, die schon ans Kriminelle heranreichen: So wird von "guten Ergebnissen" fabuliert, die zu erzielen seien, wenn "Ekzeme um die Augen" mit Urin behandelt würden.

Bei Sehproblemen sei grundsätzlich ratsam "mehrmals täglich Eigenurin in die Augen zu träufeln", was in vielen Fällen das Tragen einer Brille erübrige. Bei Patienten, die zum Beispiel mit Chlamydien infiziert sind, kann eine solche Behandlung allerdings eine gefährliche Augenentzündung hervorrufen.

Selbst von Fastenkuren ist die Rede, bei denen über drei Wochen hinweg nur Urin und Wasser getrunken wird.

Colin Goldner ist klinischer Psychologe. Er setzt sich seit etlichen Jahren kritisch mit alternativen Heilverfahren auseinander.

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