Süddeutsche Zeitung

Erde extrem:Elf Kilometer unter dem Meeresspiegel

Bis heute haben mehr Menschen die Reise zum Mond gewagt als bis zum tiefsten Punkt der Erde. Und noch immer wissen wir nur wenig über die Abgründe der Tiefsee.

Markus C. Schulte von Drach

Man kann sich kaum vorstellen, was für ein Gefühl es gewesen sein mag, in dieser winzigen Kapsel über dem Abrund zu sitzen und immer tiefer zu sinken.

Angst, so erklärte der Schweizer Jacques Piccard später, hätte er nicht verspürt an diesem 23. Februar 1960, als er zusammen mit dem amerikanischen Marineleutnant Donald Walsh in den Abgrund des Marianengrabens tauchte.

Nach fast fünf Stunden hatten sie den Meeresboden 400 Kilometer vor der Pazifikinsel Guam erreicht. Etwa zwanzig Minuten schwebte ihr U-Boot Trieste mehrere Meter über dem Boden. Die beiden Taucher in ihrer Kugel mit fast 13 Zentimeter dicken Wänden blickten durch das kleine Plexiglasfenster hinaus. Zu sehen war nicht viel mehr als ein schlammiger Grund.

Dann machten Piccard und Walsh sich wieder auf den Weg zur Oberfläche, mit der Gewissheit, dass noch kein Mensch zuvor so tief getaucht war wie sie.

10.916 Meter gaben die Tiefenmessgeräte ihres U-Boots für diese Stelle im Marianengraben an, einer Rinne im westlichen Pazifik, die östlich der Inselkette der Marianen in einem etwa 2250 Kilometer langen, halbmondförmigen Bogen verläuft. Und seit dem Besuch der Trieste, die zu dieser Zeit im Dienste der US Navy stand, heißt die Stelle "Triestetief".

Bis heute hat sich kein Mensch mehr in ähnliche Tiefen vorgewagt wie Piccard und Walsh. Und das ist verständlich. Wer möchte schon hinab in dieses lichtlose, eiskalte Dunkel?

Bereits ab einer Tiefe von 200 Metern beginnt im Meer die Zwielichtzone, dann wird es bald vollends finster. Lediglich die Leuchtorgane der Tiefsee-Organismen bringen hier und dort noch Licht in die Dunkelheit. Ungemütlich wird es auch aufgrund des Drucks: 1000 Meter unter dem Meeresspiegel entspricht dieser 100 Kilogramm je Quadratzentimeter Körperfläche, in zehn Kilometern Tiefe einer ganzen Tonne.

Dabei waren Piccard und Walsh vermutlich noch nicht einmal am tiefsten Punkt der Erde. Verschiedene Messungen sind diesbezüglich zu unterschiedlichen Werten gekommen. So stieß das unbemannte japanische Forschungs-U-Boot Takuyo 1984 im sogenannten Challenger-Tief, einem Teil des Marianengrabens, nach 10.924 Metern auf Grund.

Und am 24. März 1995 erreichte eine weitere japanische Sonde, Kaiko, den Meeresboden nach 10.911 Metern, nahm eine Probe und hinterließ eine Tafel mit ihrem Namen. Die Messung gilt als die bislang genaueste.

Die größte Tiefe aber hatten russische Wissenschaftler an Bord des Forschungsschiffes Witjas 1 bereits 1957 gemeldet: 11.034 Meter tief soll die nach dem Schiff Witjastief 1 genannte Stelle im Bereich des Challenger-Tiefs sein.

Etwa elf Kilometer unter der Meeresoberfläche, dort, wo die sogenannte Pazifische Platte sich unter die Philippinenplatte schiebt, liegt demnach der tiefste Punkt der Erde. Und obwohl man sich das kaum vorstellen kann und lange nicht glauben wollte: Es existiert hier Leben.

Nicht nur, dass in der Probe, die der Tauchroboter Kaiko aus der Challenger-Tiefe heraufgebracht hat, hunderte verschiedener Mikroorganismen entdeckt wurden. Mit Hilfe eines Köders lockte der Roboter mehrere Tiere vor seine Kamera. So konnten die japanischen Wissenschaftler auf den Aufnahmen eine Seegurke identifizieren, außerdem einen Ringelwurm und mehrere Skelettgarnelen.

Und selbst einen Fisch will Jacques Piccard kurz vor dem Ziel 1960 gesehen haben. Die größte Tiefe, aus der bislang ein Fisch herausgeholt werden konnte, liegt allerdings bei "nur" 9006 Metern. Es handelt sich um Abyssobrotula galathea, den dänische Forscher 1977 beschrieben haben.

Dass Lebewesen trotz des großen Drucks in der Tiefe überleben können, hängt damit zusammen, dass sie selbst vor allem aus Wasser bestehen. Auf diese Weise entspricht der Druck in ihrem Körperinneren dem Außendruck. Fische der Tiefsee verzichten auf die mit Gas gefüllte Schwimmblase, welche die meisten Vertreter dieser Klasse sonst besitzen. Helligkeit erzeugen Tiefseeorganismen selbst. Diese Biolumineszenz lockt Beutetiere an und hilft, Fortpflanzungspartner zu finden.

Und nicht überall liegt die Temperatur nur wenige Grad über Null. Wie der Meeresforscher Robert Ballard an Bord des Tauchbootes Alvin 1977 in einer Tiefe von mehr als 2000 Metern erstmals beobachtete, gibt es am Meeresboden Thermalquellen, wo 300 bis 400 Grad heißes Magma aus dem Erdmantel austritt.

Seitdem wurden etliche dieser heißen Schornsteine in der Tiefsee entdeckt. Das Wasser vermischt sich hier mit Mineralstoffen und Schwefelverbindungen aus dem Erdinneren und bildet schwarzen oder weißen Rauch - sogenannte Black oder White Smokers. Bakterien, die Schwefelwasserstoff verarbeiten können, bilden die Nahrungsgrundlage für andere Organismen. Dazu kommen weitere Mikroorganismen, die sich von dem ernähren, was an organischem Material aus höheren Wasserschichten herabsinkt.

Von den Bakterien ernähren sich zum Beispiel Seegurken, die wiederum von Krebsen gefressen werden, welche die Nahrung von Fischen darstellen. Andere Organismen wie Bartwürmer gehen eine Symbiose mit den Bakterien ein.Da die Umweltbedingungen um die Hydrothermalquellen an die Zustände auf der frühen Erde erinnern, hoffen manche Wissenschaftler, hier Aufschluss über die Entstehung des irdischen Lebens zu gewinnen. Und da auch auf anderen Himmelskörpern wie dem Jupitermond Europa vermutlich ähnliche Verhältnisse herrschen, könnte auch dort Leben existieren.

Trotz aller bisherigen Forschung: Wir kennen die Oberfläche des Meeresbodens weniger gut als die des Mars. Und in den Abgründen unseres Planeten wartet möglicherweise noch manche Überraschung auf uns.

Allerdings bieten auch wir den Lebewesen der Tiefsee einige Überraschungen - und keine schönen. Zehntausende Tonnen chemischer Waffen wurden von den Militärs im Meer versenkt, riesige Mengen radioaktiven Mülls dort bis 1993 "entsorgt". Zehntausende Schiffswracks - darunter auch Atom-U-Boote - liegen auf dem Meeresgrund.

Und nachdem die höheren Meeresschichten inzwischen weitgehend überfischt sind, hat sich die Jagd in die Tiefsee ausgeweitet. Riesige Schleppnetze werden bereits in einer Tiefe von bis zu 2000 Metern über den Meeresboden gezogen.

Zwar gibt es Versuche der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen, die Lebewesen der Tiefsee zu schützen.

Und obwohl von den geschätzten 500.000 bis zehn Millionen Spezies, die dort vermutlich leben, der allergrößte Teil noch gar nicht entdeckt wurde, sind schon jetzt mehrere Arten von Tiefseefischen gefährdet oder vom Aussterben bedroht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.580489
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/als
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.