Süddeutsche Zeitung

T'ai-Chi/Qi-Gong:"Schattenboxen" für Leib und Seele

Das chinesische T'ai-Chi taugt als Technik zur Entspannung oder zur Entwicklung von Körperbewusstsein. Ein therapeutischer Wert ist allerdings fraglich. Das gilt auch für das Qi-Gong.

Colin Goldner

Der taoistische Begriff T'ai-Chi, auch Taiji geschrieben, bedeutet soviel wie "Höchste Energie" und bezeichnet eine exakt festgelegte Abfolge ineinanderfließender Körperbewegungen, die in meditativem Zeitlupentempo ausgeführt werden.

Die Übungsfolge stellt in stilisierter Form den Kampf mit einem imaginären Gegner dar ("Schattenboxen"), die einzelnen Bewegungen lassen sich als Angriffs- beziehungsweise Rückzugs- oder Verteidigungsgebärden (Yang/Yin) deuten.

Ziel der Übung ist es, die in ebendiesen Gebärden sich ausdrückenden gegensätzlichen Pole von Yang und Yin zu harmonisieren und dadurch den Fluss der Lebensenergie (Chi oder Qi) anzuregen: dem Rhythmus des Atems folgend geht eine "männliche" Yang-Bewegung (Angriff) stets in eine "weibliche" Yin-Bewegung (Rückzug) über und umgekehrt.

Je nach Stilrichtung umfasst die gesamte Übungsfolge zwischen 30 und 180 Einzelbewegungen, der Ablauf dauert zwischen fünf und fünzehn Minuten.

Obgleich die Bewegungsfolge traditionell in langsamster und exakt choreographierter Form geübt wird, sollen die einzelnen Elemente auch für tatsächlichen Zweikampf verwendbar sein. T'ai-Chi wird daher unsinnigerweise gelegentlich auch als Kampfkunst (Budo) beschrieben.

T'ai-Chi ist festverankerter Bestandteil des chinesischen Gesundheitswesens, dessen Tradition angeblich weit über 5000 Jahre zurückreicht. Die heute in China weithin gebräuchlichen Übungsformen des T'ai Chi wurden allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammengestellt.

Im deutschsprachigen Raum fand T'ai Chi Ende der 1970er Jahre erste Anhänger, inzwischen zählt die chinesische Bewegungsmeditation zum Standard an Volkshochschulen, Fitnesscentern und Reha-Einrichtungen.

T'ai-Chi stellt sich als umfassendes präventives und therapeutisches System dar, durch regelmäßiges Üben lässt sich angeblich jedwedes körperliche oder seelische Problem mühelos umgehen beziehungsweise beheben.

Wundersame Wirkungen

Insbesondere bei sexuellen Funktionsstörungen soll der Übung des T'ai-Chi wundersame Wirkkraft zukommen. Mancher Autor spricht gar von übernatürlichen Fähigkeiten, die der T'ai-Chi-Übende erlange .

Die Beschreibung einer T'ai-Chi-Bewegung liest sich etwa wie folgt: "Wir drehen den Oberkörper ganz leicht nach rechts und verlagern das Körpergewicht auf das rechte Bein. Gleichzeitig erheben wir die rechte Hand auf Brustkorbhöhe, während die linke Hand nach unten kreist, bis die nach oben weisende Handfläche der linken Hand und die nach unten weisende Handfläche der rechten Hand einander gegenüberliegen, als ob sie einen Ball hielten. Das linke Bein ziehen wir dabei an das rechte Bein heran, wobei die Spitze des linken Fußes neben der Sohle des rechten Fußes den Boden berührt" .

Durch derlei Übungen soll sich der Fluss der Chi-Energie harmonisieren, der konsequent Übende bleibt beziehungsweise wird angeblich gesund .

Unbestritten kann die kontemplativ ausgeführte Bewegungsfolge des T'ai-Chi als Technik zur Entspannung oder auch zur Entwicklung und Förderung von Körperbewusstsein wertvolle Dienste leisten.

Die Behauptungen über ihren therapeutischen Wert müssen allerdings als weit übertrieben gelten. Außer unüberprüfbaren Anekdoten liegen dafür keinerlei Belege vor.

Für die Existenz irgendwelcher Chi-Kräfte, die durch die Übung des T'ai Chi angeregt werden sollen, gibt es bis heute keinerlei Anhaltspunkt. Der Vorstellung eines Flusses solcher Kräfte im Organismus kann bestenfalls metaphorischer Charakter zukommen.

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Qi-Gong

Dem T'ai Chi nahe verwandt ist das chinesische Gesundheitssystem des Qi-Gong (chinesisch für Arbeit an/mit der Energie), das auch als Chi-Kung, Nei-Gong, I-Chuan, Dao-Yin und unter zahllosen anderen Namen bekannt ist.Ihm wird gleichfalls präventive und therapeutische Wunderwirkung zugeschrieben.

Qi-Gong, dessen Wurzeln angeblich mehr als 7000 Jahre zurückreichen, wird als Ursprung chinesischer Philosophie und Medizin beschrieben, auch T'ai Chi und das Kampfsystem des Kung Fu sollen darin begründet sein. Belege für diese Behauptungen gibt es allerdings nicht.

Im deutschsprachigen Raum wird Qi-Gong seit Anfang der 1990er praktiziert, viele der inzwischen unzähligen Anbieter haben eine Ausbildung bei "Großmeister" Zhi-Chang-Li (*1942) absolviert, der über sein Münchner Institut regelmäßig Wochenendkurse zum "Zertifizierten Qi-Gong-Meister" veranstaltet.

Die Übungen des Qi-Gong sind sehr viel leichter und schneller zu erlernen als die komplizierten T'ai-Chi-Formen, was einer (Selbst-)Graduierung zum "Meister" sehr entgegenkommt .

Simple Körper- und Atemübungen

Es existieren zahllose Qi-Gong-Übungsreihen - von Huo-lung-kung (Feuerdrachen) bis Hu-pung-kung (Tigerschritt) -, die jeweils eine Folge von bis ins Detail vorgeschriebener, aber vergleichsweise simpler Körper- und Atemübungen darstellen.

Ziel ist zum Beispiel der freie Fluss von Qi-(=Ki=Chi)-Lebensenergie: "Wir stehen in einem lockeren schulterbreiten Stand. Die Füße sind leicht eingedreht und wir atmen ruhig durch die Nase. Die Arme hängen locker an den Schultern nach unten. Aus dieser Haltung sitzen wir langsam leicht ein und führen die Unterarme ebenso langsam nach oben in eine waagerechte Position. Die Handflächen zeigen dabei nach unten.

Die rechte Hand streicht, die Handfläche zur linken Hand gerichtet, unter dem linken Unterarm bis zum Ellbogen. Jetzt führt man die linke Hand auf Höhe des Kopfes nach vorne und die rechte Hand nach unten auf Höhe des Hüftknochens. Dabei wird der linke Fuß so weit wie möglich nach vorne geschoben und in eine Linie vor den rechten Fuß gesetzt. Die Hände nehmen nun die Form der Drachenkralle an und der Blick bleibt auf die vordere Hand zwischen Daumen und Zeigefinger gerichtet".

Diese Endstellung ist den Anweisungen entsprechend so lange wie möglich zu halten, dann ist die Übung zur anderen Seite hin zu wiederholen.

In der Reihe der "Pao-chien-kung-Übungen zur äußeren Kräftigung" muss "die Zunge am äußeren Zahnfleisch nach rechts oben und links unten 18mal hin- und herbewegt werden. Der gesammelte Speichel bleibt zuerst in der Mundhöhle, wird 38mal durch den Mund gespült und dann in einzelnen Portionen nacheinander geschluckt" .

Eine weitere Übung aus dieser Reihe dient zur "Beseitigung der Impotenz und des vorzeitigen Samenergusses": "Zuerst werden die Handteller warmgerieben, und dann wird mit der linken Hand die Nabelgegend 100mal kreisförmig massiert. Dann wird in entgegengesetzter Richtung mit der rechten Hand 100mal kreisend massiert. Dabei muss der Übende mit der freien Hand den Hodensack halten".

Neben den Körperübungen des Qi-Gong werden für Fortgeschrittene auch "autogene" Übungsreihen angeboten, die sich zur Freisetzung der Qi-Energie ausschließlich konzentrativer oder imaginativer Kräfte bedienen.

Für die behaupteten Wirkungen von Qi-Gong gibt es keinerlei ernstzunehmenden Beleg. Allenfalls kann den Übungen ein unspezifischer Entspannungseffekt zugeschrieben werden.

Colin Goldner ist klinischer Psychologe. Er setzt sich seit etlichen Jahren kritisch mit alternativen Heilverfahren auseinander.

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