Neuraltherapie:Stechen gegen Störungen

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Die Neuraltherapie wird bei vielen Problemen eingesetzt. Ob das mehrfache Spritzen von Betäubungsmitteln - auch Quaddeln genannt - tatsächlich hilft, ist nicht sicher.

Colin Goldner

Die Neuraltherapie, gelegentlich auch als Heilanästhesie bezeichnet, geht auf die Ärzte Walter und Ferdinand Huneke zurück, die ab Mitte der zwanziger Jahre zahllose Experimente mit dem Betäubungsmittel Procain, einem synthetisch hergestellten Kokain-Derivat, unternommen hatten. Sie gilt als eines der bekanntesten Alternativ- beziehungsweise Naturheilverfahren.

Das mehrfache Einspritzen eines Betäubungsmittels in ein begrenztes Hautareal wird als Quaddeln bezeichnet. (Foto: Foto: AP)

Ausgehend von der Idee, dass bestimmte Krankheitsbilder ihre Ursache in fern vom jeweiligen Symptom liegenden und ansonsten klinisch meist unauffälligen "Störfeldern" hätten - in alten Verletzungen, Brüchen, Narben oder chronischen Entzündungsherden -, suchten die zwei Mediziner mittels lokaler Injektionen von Procain in ebendiese Felder deren Störimpulse auszuschalten und dadurch eine Heilung der an anderer Stelle aufgetretenen Erkrankung einzuleiten.

Huneke und Huneke formulierten drei Grundsätze: 1. Jede Erkrankung kann störfeldbedingt sein. 2. Jede Erkrankung oder Verletzung kann ein Störfeld hinterlassen. 3. Jede Störfelderkrankung ist ausschließlich durch die Ausschaltung des Störfeldes heilbar.

Das Auffinden des Störfeldes, welches eine manifeste Erkrankung (vermeintlich) verursacht, geht über eine Art Trial-and-Error-Verfahren vonstatten: Es wird solange an in Frage kommenden Störfeldern gequaddelt - der Terminus technicus für mehrfaches Einspritzen eines Betäubungsmittels in ein begrenztes Hautareal wird in der Tat als Quaddeln bezeichnet - bis der gewünschte Erfolg eintritt. Tritt solcher nicht ein und kann auch bei bestem Willen nicht herbeikonstruiert werden, ist die Krankheit eben nicht störfeldbedingt.

Berühmt wurde die Neuraltherapie Anfang der vierziger Jahre durch die Entdeckung des sogenannten Sekundenphänomens, einer (vermeintlich) schlagartigen Heilung ansonsten therapieresistenter Erkrankungen durch Quaddelung der (vermeintlich) jeweils verursachenden Störfelder.

Laut Walter Huneke sei sein Bruder Ferdinand auf das Phänomen durch die unerwartete Heilung einer schweren Schulterperiarthritis gestoßen, die sich bei einer Patientin unmittelbar nach Quaddelung über dem Operationsgebiet einer alten Unterschenkelosteomyelitis (bakterielle Knochenhautentzündung) eingestellt habe.

Neuraltherapeuten sind stets auf der Suche nach dem Sekundenphänomen - zumindest in Gestalt plötzlicher Schmerz- und/oder wenigstens 24-stündiger Symptomfreiheit -, dessen Auftreten die erfolgreiche Definition und zugleich Ausschaltung des Störfeldes bestätige.

Die Einsatzmöglichkeiten der Neuraltherapie sind breit gefächert: sie reichen von Verspannungen, Arteriosklerose, Blasenerkrankungen und Contusio cerebri (Gehirnerschütterung) über Haarausfall, Krampfadern, Leber- und Nierenleiden hin zu Vaginismus (Scheidenkrampf), Wirbelsäulenschäden und Zwölffingerdarmgeschwüren.

Es scheint prinzipiell keine Krankheit oder Funktionsstörung zu geben, die nach Einschätzung mancher Anhänger des Huneke-Verfahrens nicht mit diesem zu beheben oder zumindest zu lindern sei.

Berichte von positiven Effekten - aber keine Wirkbelege

Berichte von positiven Effekten gibt es, häufig allerdings nur vorübergehend. Ernstzunehmende Wirkbelege aber fehlen bis heute. Auch Belege für die Existenz der "Störfelder" im Sinne der Hunekes oder des sogenannten Sekundenphänomens gibt es nicht.

Der neuraltherapeutische Einsatz von Lokalanästhetika - egal ob nun Procain verwendet wird oder ein anderer Wirkstoff - ist nicht ungefährlich.

Patienten sollten sich folgender Risiken bewusst sein: Es wurde beobachtet, dass bei mangelnder Desinfektion durch das mehrfache Einstechen mit ein und derselben Nadel auf der Hautoberfläche lebende Keime in tiefere Schichten verschleppt wurden und dort Abszesse bildeten. An den Einstichstellen selbst kam es zu eitrigen Entzündungen.

Mehrfach haben Injektionen von Neuraltherapeutika entlang der Wirbelsäule zu Nervenwurzelläsionen geführt. Immer wieder wurde und wird auch von schweren Zwischenfällen berichtet: von Sehstörungen, Kreislaufzusammenbrüchen, Atem- und Herzstillständen und sogar von tödlich verlaufenden Komplikationen.

Trotz des Mangels an Wirkbelegen und der Risiken hat die Neuraltherapie nach Huneke bei vielen Allgemeinmedizinern und Orthopäden bis heute weitgehend unbeschadet überlebt. Auch in Kurkliniken und vor allem bei Heilpraktikern wird das Verfahren eingesetzt.

Glauben Neuraltherapeuten, sie hätten "Störfelder" oder Schmerzgeschehen entdeckt, scheuen sie sich häufig nicht, direkt in verspannte Muskeln zu stechen, in Sehnen, Gelenke, sogar direkt in den Wirbelkanal.

In extremen Fällen wird ohne Sichtkontrolle sogar zentimetertief in die Magengrube gestochen, in den Bauchraum an die Eierstöcke heran, in die Prostata, in den Nabel, in die Schilddrüse. Gerne werden die Nadeln auch in irgendwelche vermeintlichen Akupunkturpunkte gesetzt.

Gelegentlich werden zum Quaddeln auch nicht-anästhetische Wirkstoffe verwendet (vor allem von Heilpraktikern, denen der Einsatz von Betäubungsmitteln nicht gestattet ist): Bach-Blütentropfen, homöopathisch aufbereitete Flüssigpräparate, "energetisiertes" Wasser, Eigenblut oder auch Eigenharn. Doch das Quaddel-Verfahren bleibt natürlich gleichermaßen unbrauchbar und das Risiko genauso groß, wenn statt Procain Urin injiziert wird.

Colin Goldner ist klinischer Psychologe. Er setzt sich seit etlichen Jahren kritisch mit alternativen Heilverfahren auseinander.

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