Süddeutsche Zeitung

Erde extrem:Rekordkälte über dem geheimnisvollen See

Nicht nur die Beziehungen zwischen Ost und West waren 1983 deutlich abgekühlt. In der Antarktis zeichneten russische Wissenschaftler auch die niedrigste Temperatur aller Zeiten auf.

Markus C. Schulte von Drach

Die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion waren ergebnislos geblieben, der Nato-Doppelbeschluss stand unmittelbar vor der Umsetzung, neue Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles der westlichen Militärallianz wurden in Westeuropa in Stellung gebracht. US-Präsident Ronald Reagan hatte gerade sein Forschungsprogramm SDI (Star Wars) verkündet und in Afghanistan kämpften sowjetische Soldaten gegen die von den USA unterstützten Mudschaheddin.

Der Kalte Krieg war 1983 wieder einmal besonders kalt, doch die Wissenschaftler der sowjetischen Forschungsstation Wostok auf dem Polarplateau in der Ostantarktis dürften davon wenig gespürt haben.

Hier im ewigen Eis, 1400 Kilometer landeinwärts von der nächsten Antarktisstation, in einer Entfernung von 1250 Kilometern zum Geographischen Südpol gelegen, herrschen sowieso Temperaturen weit jenseits des Gefrierpunktes.

Auf Temperaturen von etwa minus 70 Grad sinkt hier die Quecksilbersäule regelmäßig, wenn die ablandigen Winde mit Geschwindigkeiten von bis zu 25 Metern pro Sekunde um die Gebäude der Station wehen. Aber im Juli 1983, einem der sonnenlosen Wintermonate der Antarktis, war es noch kälter als sonst. Und am 21. des Monats zeigten die Messgeräte die Rekordtemperatur von minus 89,2 Grad Celsius.

Bestätigt wurde die kälteste jemals gemessene Lufttemperatur offiziell vom sowjetischen Arktis- und Antarktis-Forschungsinstitut in Leningrad. Die Station Wostok, die in einer Höhe von 3488 Metern über dem Meeresspiegel liegt, hatte bereits zuvor die tiefste, je gemessene Kälte aufgezeichnet: Am 24. August 1960, ebenfalls im antarktischen Winter, war die Temperatur auf 88,3 Grad Celsius gefallen.

Nicht offiziell bestätigt wurden dagegen die minus 91 Grad Celsius, die 1997 in der Station gemessen wurden. Es bleibt demnach beim Rekord von 1983.

Was aber tun die ein bis zwei Dutzend Wissenschaftler in dieser einsamen Gegend eigentlich? In einer Umgebung, in der es nicht nur ungemütlich kalt ist, sondern auch die Luftfeuchtigkeit gegen null geht, der Sauerstoff knapp ist, ein Luftdruck herrscht, an den Menschen nicht gewöhnt sind und für drei Monate Dunkelheit herrscht? Wo Kopf- und Ohrenschmerzen, Nasenbluten, Bluthochdruck, Erstickungsgefühle, Schlaflosigkeit, Übelkeit, Gelenk- und Muskelschmerzen drohen, bis man nach einer Woche oder auch erst nach zwei Monaten endlich akklimatisiert ist?

Gegründet wurde die Station, die zweite Anlage der Sowjets in der Antarktis, bereits am 16. Dezember 1957, nachdem die Amerikaner zuvor die Station Amundsen-Scott auf den Geographischen Südpol gesetzt hatten. Es ging demnach vermutlich wenigstens teilweise ums Prestige und darum, bei der Besetzung unerschlossenen Terrains nicht zu kurz zu kommen.

Ansonsten diente und dient die Station, die inzwischen von Russen, Amerikanern und Franzosen gemeinsam betrieben wird, meteorologischen Beobachtungen, Ozonmessungen und vor allem Eiskernbohrungen.

Bereits in den siebziger Jahren hatten sowjetische Forscher Bohrungen bis in eine Tiefe von bis zu 952 Metern vorgenommen, 1984 stießen sie in eine Tiefe von 2202 Metern vor. Bis 1993 gelang es, Löcher mit einer Tiefe von bis zu 2755 Metern zu bohren. 1998 begannen russische und französische Forscher erneut zu bohren - und stoppten bei 3623 Metern, obwohl sie noch tiefer hätten vordringen können.

Doch 1996 hatte man entdeckt, dass unter der Forschungsstation eine riesige Blase flüssigen Wassers existiert - der Wostoksee. 130 Meter oberhalb des Gewässers wurde die Bohrung beendet, um das Gewässer nicht zu verunreinigen.

Der See, dessen Oberfläche etwa 25 Mal so groß ist wie die des Bodensees, ist etliche Millionen Jahre alt. Und seit etwa 500.000 Jahren ist das Wasser, das trotz einer Durchschnittstemperatur von minus drei Grad aus noch unklarer Ursache nicht gefroren ist, völlig isoliert. Möglicherweise enthält es unbekannte Lebensformen, die aus einer Zeit stammen könnten, als die Antarktis noch nicht von Eis, sondern von Wäldern bedeckt war.

Allerdings deutet einiges darauf hin, dass der See biologisch tot ist. Das Wasser ist extrem sauerstoffreich und steht unter hohem Druck.

Noch wird darüber gestritten, ob und wie diese Zeitblase untersucht und Proben an die Oberfläche geholt werden sollten. Schließlich besteht die Gefahr, das bislang unberührte Gewässer zu verschmutzen, denn das Bohrloch wurde mit Freon und Kerosin gefüllt, damit es nicht zufriert. Und der Bohrkopf könnte Dreck und Mikroorganismen mit in die Tiefe nehmen.

Mehrere Forscherteams arbeiten derzeit an der Entwicklung von Methoden, mit denen sich dies vermeiden lässt. Doch noch ist es nicht soweit. Selbst die Nasa musste ihre Pläne auf Eis legen, am Wostoksee ihre Sonden Kryobot und Hydrobot zu testen. Die US-Behörde möchte mit Hilfe der zwei Geräte in Zukunft den Eispanzer des Jupitermondes Europa durchdringen und das dort vermutete Meer erreichen.

Anhand der zehn Zentimeter dicken Bohrkerne über dem Wostoksee konnten aber schon Informationen über die Umweltbedingungen und das Klima der letzten 414.000 Jahre gewonnen werden. Selbst Mikroben wurden in Eisproben entdeckt, die aus einer Tiefe von 3600 Metern stammen.

Allerdings ist noch unklar, ob es sich dabei um Lebewesen aus dem See handelt, oder um Organismen von der Oberfläche, die mit dem Bohrer dort hinabgelangt waren. Gerade vor solchen Kontaminierungen wollen manche Wissenschaftler den Wostoksee bewahren.

Bis eine Entscheidung getroffen ist, begnügen sich die Forscher damit, den See mit indirekten Methoden wie dem Radar zu vermessen und zu untersuchen. Der Wostoksee darf eines der letzten Geheimnisse unserer Erde bleiben - vorerst.

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