Akupunktur:Die Nadel-Therapie

Wie alle Verfahren der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) soll die Akupunktur die Blockade von Qi-Flüssen in Körper-Meridianen aufheben. Neuere Studien zeigen allerdings, dass es kaum eine Rolle spielt, wohin man pikst.

Colin Goldner

Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), wie sie sich seit Anfang der siebziger Jahre in Europa und den USA verbreitet hat, stellt einen nur minimalen Restbestand an Ideen und Praktiken der tatsächlichen Heilertraditionen Chinas dar.

Akupunktur Punkte

Eine Übersicht der Akupunkturpunkte aus der chinesischen Ming-Diynastie (1368 bis 1644). Zu anderen Zeiten und an anderen Orten wurden und werden auch andere Punkte angegeben.

(Foto: Takahiro Takano/Uni of Rochester)

Diese Traditionen basieren auf regional sehr unterschiedlichem Volksheilwissen, auf taoistischen beziehungsweise konfuzianischen Lehr- und Leitsätzen, Beobachtungen der Natur und vor allem: auf Magie samt ausgeprägtem Geister- und Dämonenglauben.

Im Zuge des erstmaligen breiteren Kontakts Chinas mit dem Westen und westlicher Medizin während der Opiumkriege (1840-1842) waren die Traditionen massiv eingebrochen. 1929 wurde die Ausübung der traditionellen Heilkunde sogar verboten.

In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde sie im Rahmen der Rückbesinnung auf nationales Kulturgut wieder erlaubt, allerdings in gestraffter, vereinheitlichter und von den groteskesten Auswüchsen magisch-schamanischen Unsinns bereinigter Form.

Bedeutung in China kleiner als westliche Medizin

Während die insofern also neugeschaffene TCM im Westen großen Anklang fand und findet, liegt ihre Bedeutung in China weit hinter der der naturwissenschaftlich orientierten westlichen Medizin - vor allem des Umstandes wegen, dass die TCM deren Erkenntnisse und Errungenschaften schlichtweg ignoriert. Sie dient über den Export einschlägiger Produkte und Dienstleistungen vor allem als willkommener Devisenbringer.

Die "philosophischen Grundlagen" der TCM, wie sie im Westen kolportiert werden, entbehren jeder Plausibilität. In den einschlägigen Publikationen finden sich breitausgewalzt die immer gleichen Behauptungen, die dem Leser alleine dadurch als verifiziert vorgegaukelt werden, dass sie drapiert in chinesische Begrifflichkeit und als Teil "uralter Überlieferungen" daherkommen.

Eine Unzahl an Heilpraktikern, Alternativmedizinern und "Sachbuch"-Autoren fühlt sich berufen, das prinzipiell "andere" Medizinverständnis der TCM zu erläutern. Ohne Kenntnis des Taoismus etwa sei jeder Versuch, TCM verstehen zu wollen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

In merkwürdigem Kontrast zu dieser Behauptung finden sich in der Literatur allerdings nur abgedroschenste Platitüden zu diesem vorgeblich bestimmenden Wesensgrund:

Yin und Yang

"Der Taoismus geht von der Vorstellung aus, dass alle Gegebenheiten der Welt in einem dynamischen, aber geordneten Zusammenhang stehen. Die beiden wichtigsten Ordnungsprinzipien sind Yin und Yang.

Ursprünglich Bezeichnungen für Licht- und Schattenseite eines Hügels, sind sie Ausdruck für die Polarität aller Naturerscheinungen und Lebensabläufe: Yang ist der jeweils aktive, bewegte und bewegende Aspekt, Yin der statische, bewahrende, verdichtete Aspekt eines Sachverhalts.

Unter dem Einfluss von Yin und Yang entsteht und vergeht alles. Yin und Yang sind Gegensätzlichkeiten, die sich gegenseitig hervorbringen, bedingen, wandeln und zu einer Einheit ergänzen." Yang seien etwa die Sonne, das Männliche, das Warme, das Feuer, die Hohlorgane Magen, Darm, Gallenblase. Yin seien der Mond, das Weibliche, das Kalte, das Wasser, die Speicherorgane Herz, Lunge, Milz.

Besagte Ordnungsprinzipien werden angeblich aufrechterhalten durch den Fluss einer als Qi (bzw. Ki oder Ch'i [sprich: Tschi]) bezeichneten Lebensenergie, die für eine ausgewogene Balance von Yin und Yang sowie den ungestörten Ablauf der elementaren Wandlungsphasen sorgt.

Jedes Lebewesen soll von Qi-Energie durchströmt werden. Diese zirkuliert angeblich in einem an der Körperoberfläche gelegenen Netz sogenannter Meridiane, vergleichbar einem in sich geschlossenen System auf- und absteigender Wasserrohre. Es werden vierzehn ineinander übergehende Hauptmeridiane sowie eine Reihe an Nebenmeridianen unterschieden, die (auf näher nicht erläutertem Wege) mit jeweils zugeordneten Organen oder Funktionskreisen in Verbindung stehen sollen.

Jede Erkrankung zeigt eine Qi-Blockade

Jede organismische Erkrankung oder Funktionsstörung zeigt sich angeblich (noch bevor sie manifest wird) in einer Blockade des Qi-Flusses im entsprechenden Meridian. Umgekehrt löst die Behebung dieser Blockade den Anhängern der TCM zufolge das verursachende (beziehungsweise sich abzeichnende) Problem auf.

Sämtliche Verfahrensformen der TCM zielen auf Diagnose und Behebung ebendieser Qi-Blockaden ab. Zusammenfassend werden sie als "Energiemedizin" bezeichnet.

Zentrale Verfahrensform der TCM - die im Übrigen ein eigenes (und gänzlich unbrauchbares) Diagnosesystem (Puls-/Zungendiagnose) sowie eine je eigene Heilmittel-, Ernährungs- und Bewegungslehre kennt - ist die sogenannte Akupunktur.

Diese beruht darauf, über das Einstechen (lateinisch "pungere") von Nadeln (lateinisch "acus") in bestimmte Meridianpunkte die blockierte Qi-Energie angeblich wieder in Fluss bringen kann. (Der Begriff "Akupunktur" wurde von jesuitischen Missionaren geprägt, die bereits im 17. Jahrhundert das in China als "Zhen Jiu" bekannte Nadelstechen kennengelernt hatten.) Die Begriffe Akupunktur und TCM werden vielfach synonym verwandt.

Auf jeder der erwähnten vierzehn Meridianbahnen soll sich eine Vielzahl an Punkten befinden, die, in Position und Funktion durch "mehrtausendjährige empirische Forschung" exakt festgelegt, gezielt akupunktiert werden könnten.

Gut gegen das Rumpeln in den Eingeweiden

Auf dem absteigenden (von oben nach unten verlaufenden) und damit Yin-energetischen "Lungenmeridian" beispielsweise, der sich von der Schulter über die Ellenbeuge zum Daumen erstreckt, sind diesem System nach elf Punkte angeordnet (Lu1-Lu11).

Akupunktur: Wieso soll eigentlich gerade hier gestochen werden?

Wieso soll eigentlich gerade hier gestochen werden?

(Foto: Foto: iStock)

Eine Akupunktur des auf Höhe des unteren Bizepsansatzes gelegenen Punktes Lu4 etwa soll angezeigt sein bei Husten, Asthma und Kurzatmigkeit, der am Handgelenk gelegene Punkt Lu8 sollte bei Atemnot und Krämpfen gestochen werden.

Der parallel dazu aufsteigende, sprich: Yang-energetische "Dickdarmmeridian", der von der Zeigefingerspitze über die Armaußenseite zum Schlüsselbein und von dort weiter zur Nase verlaufen soll, weist angeblich zwanzig Punkte auf (Di1-Di20). Eine Akupunktur beispielsweise des Punktes Di3 am Ansatz des Zeigefingers gilt als hilfreich bei "Rumpeln in den Eingeweiden", Di11 auf der Ellenbogenspitze bei Durchfall.

Angeblich gut gegen alle Erkrankungen

Praktisch sämtliche Erkrankungen und Funktionsstörungen könnten über das Stechen allein der entlang der Wirbelsäule gelegenen Punkte (Bl10-Bl54) behandelt werden: Der zwischen den Schulterblättern gelegene Punkt Bl11 beispielsweise wirkt dem Akupunkteur zufolge gegen Husten, Fieber und Gelenkerkrankungen, Bl23 auf Lendenhöhe gegen Hör- und Sehstörungen, Bl25 auf Kreuzhöhe gegen Verdauungsprobleme und Koliken.

Insgesamt sollen auf den vierzehn Hauptmeridianen 361 Punkte angeordnet sein, über die Blockaden im Fluss der Qi-Energie samt den ebendiese verursachenden Krankheiten und Funktionsstörungen behoben werden könnten.

Die Zahl der Akupunkte ist allerdings in der einschlägigen Literatur keineswegs einheitlich angegeben: die Rede ist wahlweise von 220, 533, 695, 750, 1054 und so weiter bis hin zu mehreren tausend Punkten, die auf einer divergierenden Zahl von zwölf bis zweiunddreißig Haupt- und zahllosen Nebenmeridianen verteilt sein sollen.

Der Verlauf der Meridiane weicht bei einzelnen Autoren erheblich voneinander ab, ebenso die Lage und/oder Funktion der angegebenen Punkte. Diese Punkte, so wird in einschlägigen Lehrbüchern behauptet, lägen an sogenannten Triggerpunkten der Muskulatur, an denen diese besonders schmerzempfindlich sei und/oder an Durchtrittsstellen von Gefäß-Nerven-Bündeln durch Muskelfasern; jedenfalls unterschieden sie sich von ihrer Umgebung durch erhöhten Hautwiderstand (was sie mit Hilfe entsprechender Punktsuchgeräte problemlos auffindbar mache). Auch ließen sie sich als kleine Einbuchtungen oder Knötchen leicht ertasten.

Bei anderen Autoren wird genau das Gegenteil behauptet: Die Akupunkte wiesen verminderten Hautwiderstand auf und seien gegenüber dem umgebenden Hautareal distinkt erhaben.

Meinen die einen, eine erhöhte Temperatur an den Akupunkten festgestellt zu haben, meinen andere, sie sei leicht vermindert. Und wieder andere meinen, nichts dergleichen treffe zu: Die Punkte seien auf physikalische Weise überhaupt nicht feststellbar, sondern nur intuitiv zu ermuten.

Auch die Praxis der Akupunktur ist alles andere als einheitlich: Nach einer - auf unterschiedlichstem Wege vorgenommenen - Diagnose und damit Bestimmung der zu nadelnden Punkte werden die Akupunkturnadeln, bestehend aus biegsamem Stahl in einer Stärke zwischen 0,2 und 0,4 Millimeter und einer Länge von zwei bis zwanzig Zentimetern, zwischen 0,2 und 0,8 Zentimeter tief in die Haut eingestochen.

Gold- oder Silbernadel?

Ist eine tonisierende (anregende) Wirkung gewünscht, werden sie schräg in Fließrichtung der Qi-Energie appliziert, soll eine sedierende (beruhigende) Wirkung erzielt werden, entgegen dieser Fließrichtung oder auch senkrecht zum Meridian. Verschiedene Schulen machen hierzu allerdings sehr unterschiedliche Angaben.

Vereinzelt wird auch behauptet, eine tonisierende Wirkung sei nur mit goldenen Nadeln zu erzielen, eine sedierende nur mit silbernen. Nach dem Einstechen werden die Nadeln zur Stimulierung des Qi-Flusses ein paar mal hin- und hergedreht.

Gelegentlich werden mehrere Nadeln eng nebeneinander eingestochen, um die nur wenige Quadratmillimeter großen Akupunkte nicht zu verfehlen. Nach Angaben eines Lehrbuchautors sei das "betroffene Gebiet großzügig mit Nadeln zu spicken wie ein Nadelkissen".

Die Nadeln verbleiben zwischen zehn und dreißig Minuten in der Haut und werden dann herausgezogen. Je nach Schule werden zwischen zehn und fünfzig Punkte gleichzeitig genadelt, wobei sich bei 361 (oder mehr) Punkten eine praktisch unendliche Zahl an Kombinationsmöglichkeiten ergibt.

Die Behandlung wird als einmalige Therapie durchgeführt oder ein- bis dreimal pro Woche über mehrere Wochen hinweg wiederholt. Es gibt auch Dauernadeln mit einer Art Widerhaken, die, eingestochen und mit Heftpflaster fixiert, tagelang in der Haut verbleiben.

Wirkt die Nadel - und wenn ja, wie?

Entgegen aller Behauptung kommt dem angeblich so wesensbestimmenden "philosophischen Hintergrund" der TCM und damit der Akupunktur allenfalls die Rolle zu, das Verfahren mit der Aura des Exotischen und damit weiter nicht Hinterfragbaren zu umgeben.

Dazu dient auch die notorische Verwendung der chinesischen Punktebezeichnungen wie. Dü8 = Xiaohai = "Punkt des Kleinen Meeres" (am Ellenbogen).:

Nadeln unter Strom

Genadelt wird nicht gemäß der "Ordnungsprinzipien von Yin und Yang" sondern in einfacher symptombezogener Kausalmanier: Die Nadeln werden anhand eigener Atlanten, in denen sämtliche nur denkbaren Krankheitssymptome mit entsprechenden Akupunktkombinationen verknüpft sind, sowie dazugehöriger Körperschemata, in die die Meridiane und Punkte genau eingezeichnet sind, gesetzt.

Akupunktur wird in einer Vielzahl methodischer Variationen angeboten: Mancher Praktiker sucht die Wirkung seiner Behandlung zu verstärken, indem er an die eingestochenen Nadeln Elektroden anklemmt und schwache Stromimpulse einleitet. (Eine Sonderform solchen Vorgehens stellt die "Elektroakupunktur nach Voll" - EAV - dar.)

Vielfach werden die eingestochenen Nadeln auch mit einem Infrarotstab oder aufgesetzten und abgebrannten kleinen Kegeln aus getrocknetem Beifußkraut (Moxibustion) erwärmt.

Weitverbreitet ist auch die Methode, in Wasser gelöste Homöopathika oder Schüßler-Salztabletten auf den Akupunkten zu verreiben oder in diese zu injizieren. Auch Eigenblut oder Eigenurin wird dergestalt eingesetzt. Ebenfalls weitverbreitet ist das Bestrahlen der Akupunkte mit Farb- oder Laserlicht, das Auftragen von Bachblütenessenzen, Aroma- oder Aura-Soma-Ölen, das Befestigen kleiner Magnetstreifen und so weiter.

Einen ernstzunehmenden Wirkbeleg für die Akupunktur oder eine ihrer Varianten gibt es, entgegen aller Erfolgsmeldungen in den Boulevard- und Alternativheilermedien, bis heute nicht.

Die bislang durchgeführten Modellversuche, mit deren Hilfe Wirksamkeitsnachweise erzeugt werden sollten, waren durch die Bank mangelhaft konzipiert und/oder mit eklatanten methodischen Fehlern behaftet. Die mit großem Aufwand publizierten positiven Ergebnisse wurden entweder nie einer unabhängigen Überprüfung unterzogen oder konnten solcher nicht standhalten.

Und wieder: der Placeboeffekt

Es gibt bis heute keinerlei Nachweis einer Wirkung von klassischer Akupunktur über den Placebo-Effekt hinaus: Gezieltes Setzen der Nadeln nach Atlas oder Punktsuchgerät und beliebiges Setzen der Nadeln an irgendwelchen Stellen des Körpers brachten in klinischen Versuchen absolut gleichwertige Resultate. Die Wirkung war immerhin besser als die von Standardverfahren der Schulmedizin - weshalb auch schon von einem Superplacebo-Effekt gesprochen wurde.

Abgesehen von unspezifischen Reizkomponenten sind es demnach offenbar in erster Linie suggestive Faktoren, die die beobachtete Akupunkturwirkung etwa bei Knie- oder Rückenbeschwerden erklären.

Als erwiesen gilt allenfalls, dass durch das Einstechen der Nadeln die Freisetzung stimmungsaufhellender Serotonine und schmerzlindernder opioider Peptide wie Endorphin ausgelöst werden kann. (Anmerkung der Redaktion: Eine aktuelle Studie der University of Rochester, New York, hat überdies an Mäusen gezeigt, dass die Nadeln, wenn sie leicht rotiert werden, zu leichten Gewebsverletzungen führen. Dies löst die Ausschüttung des Neurotransmitters Adenosin aus, der die Schmerzleitung der Nervenfasern aus der Umgebung der Verletzung hemmt.)

Allerdings hat diese gänzlich unspezifische Wirkung nichts mit irgendwelchen Meridianen oder Akupunkten zu tun.

Tatsache ist auch: Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf die Existenz irgendwelcher Energiekanäle, die den Körper durchziehen oder auf die Existenz irgendeiner Energie, die darin fließen könnte.

Ein System an Punkten auf der Hautoberfläche, über deren Nadelung (oder sonstige Manipulation) das Geschehen in unserem Körper in einer Weise beeinflusst werden könnte, wie die Akupunkteure sich das vorstellen, gibt es nicht.

Wenig gesprochen wird übrigens von den ungeahnten Risiken des Verfahrens. So sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen die Einstichstellen sich durch mangelhaft sterilisierte Nadeln oder Dauernadeln infizierten oder es zu einer Hepatitis kam; auch ist es vorgekommen, dass die haarfeinen Nadeln abbrachen und in der Haut verbliebene Spitzen chirurgisch entfernt werden mussten.

Es sind auch Verletzungen von Herz, Blase, Lunge, Auge, Rückenmark, Nervenleitungen und Gefäßen dokumentiert. Darüber hinaus wurde in einigen Fällen der Brustkorb zu tief angestochen, was zu einem Zusammenfall der Lunge (Pneumothorax) führte - in mindestens vier Fällen (bis 2010) mit Todesfolge. Ein weiterer Patient starb aufgrund der Akupunktur an einer Entzündung der Herzinnenhaut (Endokarditis), ein dritter erlitt unter der Behandlung einen tödlichen Asthmaanfall.

Colin Goldner ist klinischer Psychologe. Er setzt sich seit etlichen Jahren kritisch mit alternativen Heilverfahren auseinander.

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