Die anthroposophische Heilkunde ist untrennbar mit der Figur ihres Begründers Rudolf Steiner (1861-1925) verbunden.
Schon in früher Kindheit, so die Legende, sei Steiners "primäre Erfahrung die der Welt des Seins hinter der sinnlichen Welt" gewesen.
Demnach hätte der junge Steiner übersinnliche Fähigkeiten besessen. Aus heutiger psychiatrischer Sicht würde man die Symptome, die er als junger Erwachsener entwickelte, allerdings als Hinweise auf den Beginn einer schizoiden Persönlichkeitsstörung interpretieren.
Die von ihm ab Anfang der 1920er entwickelten Vorstellungen einer "geisteswissenschaftlichen" Heilkunde sind, wie auch seine sonstigen Beiträge zu Pädagogik, Psychologie, Kunst, Philosophie und anderem, durchzogen von Ideen und Begrifflichkeiten, die sich ihm angeblich in "mystischer Schau" offenbart hatten.
Zu den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften allerdings stehen seine Vorstellungen in diametralem Widerspruch.
Der anthroposophischen Heilkunde geht es im Prinzip weniger um die Behandlung von Krankheitserscheinungen als vielmehr um die Wiederherstellung eines Gleichgewichtes der von Steiner postulierten "Äther-", "Astral-" und "Ich-Leiber", die den physischen Körper in aurischen Hüllen umgäben.
Zu diesem Zwecke bietet sie eine Vielzahl spezifischer Medikamente aus pflanzlichen, tierischen oder mineralischen Grundstoffen an, die, ausgepresst, getrocknet, gekocht oder verascht, in hömöopathieähnlicher Aufbereitung und Verdünnung eingesetzt werden.
Die Zuordnung von Pflanzen zu bestimmten Organen beziehungsweise Organstörungen erfolgt über Farb- und Formassoziationen: Gelbe Löwenzahnblätter etwa dienen als Therapeutika bei Erkrankungen der Leber, die bekanntlich Haut und Augen gelb färben können.
"Eingespannt in kosmische Zusammenhänge außerirdischer Natur"
Andere Präparate werden aus Bienen, Wespen oder Ameisen hergestellt; diese werden in der Regel lebend zermalmt oder püriert, um ihre "Lebenskraft" in das Medikament zu übertragen. Daneben werden Heilmittel auch aus Schlangengiften, Krötensekreten oder Sepia-Tinte, aus Haifisch- oder Rindergalle, Hirschhorn oder Maulwurfshaaren gefertigt.
Die Kreuzspinne ist laut Steiner übrigens "eingespannt in kosmische Zusammenhänge außerirdischer Natur." Da mit ihr die astralischen Kräfte angeregt werden könnten, die sich besonders in der Bewegung äußerten, empfehle sich ihre Anwendung bei Muskelerkrankungen.
Mineralpräparate nach Steiner enthalten unter anderem Quarz oder Jaspis; sie werden eingesetzt bei Störungen des "Sinnes-Nervensystems".
Eine Sonderstellung nehmen die sogenannten Metallpräparate ein. Sie werden aus den Metallen des "inneren Planetensystems" hergestellt: Blei, Eisen, Gold, Kupfer, Quecksilber, Silber und Zinn.
Blei korrespondiere mit Saturn, so Steiner, und sei deshalb bei Milzerkrankungen einzusetzen, Eisen mit Mars, was eisenhaltige Präparate zur Behandlung von Gallenproblemen prädestiniere.
Bevorzugt werden auch Präparate mit ""vegetabilisierten Metallen" eingesetzt. Streng nach den Vorgaben Steiners werden hierbei die zur Rede stehenden Metalle aufwendigen Glüh-, Abrauch- und Fällungsprozessen ausgesetzt, bis nur noch poröse Rückstände übrigbleiben.
Aus diesen wird ein sogenannter "Urdünger" hergestellt, der in einer Wasserverdünnung von 1:1.000.000 auf die Saat der entsprechenden Heilpflanze ausgebracht wird. Johanniskraut beispielsweise wird mit Gold-Urdünger behandelt, Brunnenkresse mit Quecksilber.
Nach der vollen Entfaltung der Pflanze werden die oberirdischen Teile unter Beachtung von Mondphasen und astrologischen Planentenkonstellationen abgeschnitten, gehäckselt und in der Sonne angewelkt; anschließend werden sie mit reifer Gartenerde vermischt und in Tontöpfen kompostiert.
In einer zweiten Stufe wird der so erhaltene Kompost auf eine neue Saat ausgebracht, deren voll entfaltete Pflanzen derselben Prozedur unterworfen werden wie die Pflanzen der ersten Stufe. Der Vorgang wird noch ein drittesmal wiederholt. Die in der dritten Stufe, sprich: nach drei Jahren "ganz vom Metallprozess durchdrungenen" Pflanzen werden zu homöopathieähnlichen Lösungen und Injektionsmitteln aufbereitet.
Auf diese Weise "kamillenvegetabilisiertes" Kupfer beispielsweise soll unentbehrlich in der Behandlung von Blähungskoliken sein.
Auch Präparate mit "animalisierten" Metallen werden verwendet, die in gleichermaßen ritualisierter Form aus den Organen von Schlachttieren - meist junge Rinder, Schweine oder Schafe - hergestellt wurden, denen zu Lebzeiten entsprechende Metalle verabfolgt worden waren.
Mit Misteln gegen den Krebs
Zu den bekanntesten Medikamenten der anthroposophischen Heilkunde zählen übrigens Mistelpräparate, die vor allem gegen Tumorerkrankungen eingesetzt werden.
Der Glaube an die Wirkkraft der Mistel rührt in erster Linie von einem Analogiedenken: Wie beim Krebs handle es sich auch bei der Mistel um einen Schmarotzer; wie der Krebs, der sich dem normalen Zellwachstum widersetze, widersetze sich auch die Mistel den Gesetzen der Natur: sie blühe im Winter, berühre die Erde nicht und wachse nicht dem Sonnenlicht entgegen.
Von entscheidender Bedeutung soll die indikationsbezogene Wahl der Wirtsbäume sein: Zur Behandlung etwa von Karzinomen des Urogenitaltraktes seien bei männlichen Patienten Mistelpräparate vom Wirtsbaum Eiche zu verwenden, bei weiblichen Patienten dagegen vom Wirtsbaum Apfel.
Die Zuordnung der einzelnen Präparate beziehungsweise der darin enthaltenen Stoffe zu bestimmten Störungen oder Erkrankungen ist naturwissenschaftlich durch nichts belegt und rational auch nicht nachvollziehbar.
Ähnlich wie die Mittel der Homöopathie unterliegen auch die Mittel der anthroposophischen Heilkunde einer gesetzlichen Ausnahmeregelung:
Ihre Wirkung muss nicht anhand der wissenschaftlichen Kriterien nachgewiesen werden, die Maßstab der Zulassung jedes anderen Medikaments sind. Eine klinisch-kontrollierte Arzneimittelprüfung findet nicht statt.
Colin Goldner ist klinischer Psychologe. Er setzt sich seit etlichen Jahren kritisch mit alternativen Heilverfahren auseinander.