Technologie:Aus der Xbox in die Forschung

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Was Videospieler vor dem Fernseher herumturnen lässt, nutzen Wissenschaftler für ihre Arbeit: Dank der Sensoren aus der Xbox reagieren ihre Maschinen auf Gesten.

Christoph Behrens

Der junge Mann im blauen Hemd schaut ernst auf den Mini-Helikopter, der neben ihm auf einer Matte steht. Dann hebt er seinen rechten Arm. Der Hubschrauber startet. Der Mann behält ihn im Blick während er seinen Arm kreisen lässt - der Hubschrauber ahmt seine Bewegungen in der Luft nach. Der Mann hebt seinen linken Arm - der Helikopter schlägt einen Salto. Er klatscht - der Heli landet. Wer Armin Ambühl von der ETH Zürich zusieht, wie er mit bloßen Händen einen Modellhelikopter dirigiert, dem wird fast unheimlich.

Mit Hilfe des Kinect-Sensors für Microsofts Spielkonsole Xbox, in dem eine Kamera und ein Infrarotsensor stecken, wird der Roboter Care-O-bot zum Kellner. Offen bleibt, ob er in einer weniger legeren Runde die Flasche auf dem Tablett an seiner anderen Hand servieren würde. (Foto: Fraunhofer IPA)

Das Geheimnis von Ambühls Macht steht auf einem Tischchen vor ihm: eine längliche Box aus schwarzem Plastik, sie erinnert etwas an ein Radio. Ihr Inhalt: eine Kamera und ein Infrarotsensor, dieser misst laufend die Abstände zu Objekten, wie hier zu Ambühls Händen, und erstellt so eine 3-D-Karte der Umgebung.

Viel mehr ist nicht drin in dem 100-Euro-Kasten. Die Erfindung einer israelischen Firma heißt Kinect, Nutzer der Microsoft-Spielkonsole Xbox 360 können mit ihr virtuell Abenteuer erleben, indem sie vor dem Fernseher herumturnen.

Offenbar stürmten auch Forscher die Läden, als der Sensor vergangenen November auf den Markt kam. Die Wissenschaftler sahen darin ganz andere Dinge als ein Spielgerät: günstige Augen für ihre Roboter, 3-D-Scanner für ihre Ausgrabungsstätten oder Hilfsmittel fürs Operieren.

Zwei Studenten aus Konstanz etwa haben den Sensor auf einen Helm montiert und mit einem Vibrationsgürtel verbunden. Das "Navi" getaufte Gerät erfasst die Umgebung und kann Blinde vor Hindernissen warnen, indem der Gürtel vibriert. Was als zweimonatiges Semesterprojekt anfing, ermöglichte den beiden Studenten, in die USA und nach Portugal zu reisen und Vorträge zu halten.

Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) verbaut den Kinect bereits in einem Serviceroboter, der etwa Senioren Getränke serviert. "Der Care-O-bot erkennt mit Hilfe des Kinect Becher und Gesichter und protokolliert, wie viel jeder trinkt", sagt Birgit Graf, die am IPA die Gruppe Haushalts- und Assistenzrobotik leitet. Bald soll der Roboter auch Medikamente verteilen.

Jürgen Schulze hat an der University of California in San Diego aus dem Sensor einen tragbaren Scanner gebaut, der archäologische Ausgrabungsstätten digitalisiert. "Unsere Vision ist eine umgekehrte Spraydose, die Bilder nicht sprüht, sondern aufsaugt", sagt der Informatiker. In Jordanien soll der "ArKinect" im kommenden Jahr erstmals eingesetzt werden. In San Diego können die stets klammen Archäologen die Ausgrabung dann im Computerlabor mit 3-D-Brillen besuchen, ohne ständig nach Jordanien fliegen zu müssen.

Thomas Hanke war in Deutschland einer der ersten, die das Potenzial des Sensors für die Forschung erkannten. Am Institut für Deutsche Gebärdensprache in Hamburg arbeitet der Linguist an einem Wörterbuch für Gebärden. Hanke postiert sich vor dem Sensor und vollführt die Gebärden der Gehörlosen; damit speist er die Bewegungen in den Computer ein.

Bereits vor zweieinhalb Jahren begann Hanke, damals sehr teure und unpraktische 3-D-Kameras einzusetzen, immer in der Hoffnung auf einen Durchbruch dieser Technologie. Diese Rechnung sei nun aufgegangen. "In dem Moment, wo die Technik in einer Spielkonsole steckt, purzeln die Preise", sagt Hanke.

Im Januar möchte sein Institut im Rahmen des EU-Projekts "Dicta-Sign" zusammen mit den Universitäten Athen und Surrey einen Prototypen des interaktiven Wörterbuchs vorstellen, 1200 Gebärden soll es bis dahin beherrschen.

"Der Preis des Sensors ist nicht einmal der Hauptgrund dafür, dass Unis ihn zunehmend einsetzen", sagt Torsten Kröger. Für den Ingenieur lautet das Zauberwort "Standardisierung". Der Deutsche forscht an der US-Universität Stanford an Roboter-Steuerungen.

Vor kurzem erregten seine Studenten Aufsehen, weil sie innerhalb von dreieinhalb Wochen Roboter entwickelt hatten, die via Kinect mit Schwertern kämpfen und Hamburger braten können.

In einem Video duellierten sich eine Studentin und ein Roboterarm der Augsburger Firma Kuka mit farbigen Holzstäben. Der Roboterarm reagiert mittels Kinect flexibel auf die Bewegungen seiner Gegnerin und pariert so ihre Schwerthiebe. Bisher hatte jede 3-D-Kamera ihre Eigenheiten, sagt Kröger, die Programmierung sei oft sehr aufwendig gewesen. "Man bekommt mit dem Kinect jetzt sehr viel auf dem Teller serviert, ohne großartig selber kochen zu müssen."

So hat Microsoft im Juni eine Software veröffentlicht, mit der jeder Interessierte Anwendungen für den Sensor selbst entwickeln kann. Sogar auf die komplexen Algorithmen, mit denen der Sensor Bewegungsmuster erkennt, hat die Entwicklerschar nun Zugriff.

Damit hat sich die Haltung des Konzerns gegenüber einer Manipulation seines Produkts radikal gewandelt, von offener Ablehnung hin zu fast unterwürfiger Unterstützung. Mit ausgelöst hat das die New Yorker Firma Adafruit Industries, die Elektronik zum Eigenbau vertreibt. Als der Sensor am 4. November in den USA rauskam, setzte Adafruit zugleich ein Preisgeld von 1000 Dollar für denjenigen aus, der als erster die Daten des Sensors mit einem PC gezielt ausliest.

Microsoft erklärte wenige Stunden später, dass der Konzern eine Manipulation nicht dulden würde und "eng mit den Behörden zusammenarbeiten wird, um den Kinect einbruchssicher zu halten". Adafruit erhöhte das Preisgeld auf 2000, dann noch einmal auf 3000 Dollar. Ein spanischer Hacker knackte den Datenstrom innerhalb einer Woche und ebnete einer Welle an Eigenentwicklungen den Weg.

Microsoft schweigt dazu größtenteils. Man habe von Anfang an Entwickler unterstützen wollen, heißt es aus Firmenkreisen. Die erste Drohung sei eine Art Kommunikationspanne gewesen, von "anfänglicher Verwirrung" ist die Rede, offenbar sei man falsch verstanden worden.

Den Entwicklern ist das egal. "Bis vor kurzem hatten nur wenige Forschungseinrichtungen oder Hollywoodstudios Zugriff auf Umgebungsscanner, Motion-Capturing oder 3-D-Kameras", sagt Sean Kean, Mitgründer der New Yorker "Open Kinect"-Gruppe. "Viele Erfindungen oder Anwendungen, die früher ohne massive finanzielle Förderung undenkbar waren, sind jetzt in Reichweite."

Kean schreibt ein Buch darüber, wie man mit dem Sensor neuartige Gestensteuerungen entwickeln kann. Zunehmend drängen auch andere Anbieter in diesen neuen Markt. Das Unternehmen Softkinetic bietet ähnliche Infrarot-Sensoren an, die deutsche Firma PMDTechnologies will dem Kinect mit einer noch kleineren Kamera Konkurrenz machen. Sie könnte Gestensteuerungen in Smartphones ermöglichen, vermutet Kean.

Selbst in den OP-Saal könnte die neue Technik einziehen. Forscher der Johns Hopkins University in Baltimore haben einen chirurgischen Roboter entwickelt, mit dem Ärzte in Zukunft allein mit Gesten operieren könnten, ohne einen Steuerhebel oder einen Patienten anzufassen. Jedoch muss sich erst zeigen, wie sich der Kinect unter solch extremen Anforderungen bewährt.

Doch womöglich werden in Zukunft auch normale Computer-Nutzer auf eine Bedienung per Handstreich umstellen. Wie die aussehen könnte, zeigt Garratt Gallagher, Robotik-Forscher am MIT. Er hat die Steuerung aus dem Film "Minority Report" mit Tom Cruise kopiert, der im späten 21. Jahrhundert spielt. Wie Cruises Figur schiebt Gallagher nur mit Handbewegungen Grafiken und Objekte auf einem Bildschirm umher. Vor zehn Jahren war das noch Science-Fiction.

© SZ vom 14. September 2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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