Süddeutsche Zeitung

200 Jahre Fahrrad:Das klügste Fortbewegungsmittel der Menschheit

Vor 200 Jahren baute Karl Freiherr von Drais das erste Fahrrad - eine Erfindung mit weitreichenden Folgen. Ein Loblied auf das schlaueste Verkehrsmittel.

Von Sebastian Herrmann

Wer mit dem Rad durch verstopfte Städte pendelt, wird sehr wahrscheinlich andere Verkehrsteilnehmer anschreien. Etwa, wenn ein Autofahrer beim Rechtsabbiegen den Radler übersieht und fast ins Jenseits befördert; oder wenn ein Autofahrer den Radler so knapp passiert, dass zwischen Außenspiegel und Außenhaut kaum ein menschliches Haar passt. Solche Nahtoderfahrungen lassen Radler schäumen. Es ist ein täglicher Kampf ums Überleben, der ein starkes "Wir-gegen-sie-Gefühl" weckt: Radfahrer gegen Autofahrer - sie scheinen natürliche Feinde zu sein. Doch eigentlich gehören sie zusammen, sie sind Familie: Ohne die Entwicklung des Fahrrads wäre das Automobil kaum denkbar gewesen. Der amerikanische Verkehrsforscher James Flink hat es so formuliert: "Keine vorherige technische Innovation - nicht einmal der Verbrennungsmotor - war für die Entwicklung des Automobils so wichtig wie das Fahrrad."

Die Erfindung des Fahrrads verhalf Techniken wie dem Kugellager, dem Speichenrad oder dem Luftreifen zum Durchbruch. Das Fahrrad beförderte die Notwendigkeit, Leichtbau-Materialien zu entwickeln. Der kommerzielle Durchbruch des Rads trieb die Entwicklung standardisierter Massenfertigungsverfahren voran und schuf wesentliche Teile der industriellen Basis, aus der später die Autobranche entstand. Selbst der Straßenbau wurde einst von Radfahrern vorangetrieben - lange bevor es Autos gab, die diesen Raum für sich reklamieren konnten.

"Erst das Fahrrad, dann das Auto", sagt auch Thomas Kosche vom Technoseum in Mannheim. Der Sammlungsleiter des Hauses hat die Ausstellung "2 Räder - 200 Jahre. Freiherr von Drais und die Geschichte des Fahrrades" kuratiert, die seit Freitag, 11. November, geöffnet hat. Und auch Kosche versteht diese Aussage in dem Sinne, dass wesentliche technische Komponenten des Autos zunächst für das Fahrrad entwickelt wurden. Wie nahe sich die beiden Verkehrsmittel einst standen, verdeutlicht eine Ausgabe von "Meyers Konversations-Lexikon" aus dem Jahr 1894: Gottlieb Daimlers Motorvierrad, eines der ersten Autos der Welt, wird darin ganz selbstverständlich unter dem Stichwort "Fahrrad" präsentiert. Ohne Fahrrad kein Auto.

Zu Beginn dieser so konfliktreichen Verkehrsgeschichte rumpelte Karl Freiherr von Drais auf einer klobigen Laufmaschine von Mannheim aus auf der gepflasterten Chaussee in Richtung Schwetzingen; damals die beste Straße weit und breit. An jenem 12. Juni 1817 bot der Freiherr seinen Zeitgenossen einen wohl bizarren Anblick: Ein Mann auf einer hölzernen Konstruktion, deren zwei Räder hintereinander angeordnet waren, mit seinen Füßen stieß sich der Freiherr im Rhythmus vom Boden der Chaussee ab - wie seltsam! Aus heutiger Perspektive wecken Gerät und Fahrt des Freiherrn von Drais eher ein mildes Lächeln. War der Mann doch auf einer grobschlächtigen Variante jener Geräte unterwegs, auf denen heute kleine Kinder üben, die Balance zu halten: einem Laufrad. Dabei soll es sich um eine revolutionäre Idee gehandelt haben?

Ein hölzernes Laufrad als Keimzelle all der übermotorisierten Audis, BMWs und anderen Fabrikate ist nur schwer vorstellbar und vielleicht einer der Gründe, weshalb Freiherr von Drais als Erfinder geringere Lorbeeren erhalten hat als etwa Carl Benz oder Gottlieb Daimler. Ein anderer Grund könnte darin liegen, dass das Fahrrad als Idee so offensichtlich und bar jeden Geheimnisses erscheint, dass dessen Erfindung kaum wie eine große intellektuelle Leistung erscheint. Es löst eher Verwundern aus, dass dieses Gerät erst so spät in der Geschichte erfunden wurde.

Wie unfair! Allein der Gedanke, zwei Räder hintereinander statt nebeneinander anzuordnen, stellte eine kleine Revolution dar: Bei Drais' Zeitgenossen weckte dies Unverständnis und Furcht. Der Begriff "Balancierangst" tauchte damals auf. Wie sollte so eine Maschine fahren, ohne umzufallen? In der Natur existiert für dieses Prinzip kein Vorbild, der Erfinder ließ sich, wie er einmal schrieb, von Schlittschuhläufern inspirieren, die trotz dünner Kufen nicht umkippen. Und Drais erkannte ein wesentliches Element: Eines der beiden Räder muss frei lenkbar sein. Ansonsten verhält sich so ein Zweirad, als sei es in Straßenbahnschienen verkeilt - es stürzt zur Seite.

Hunger trieb seine Erfindung an. Die Verwüstungen während der napoleonischen Kriege ließen die Preise für Getreide drastisch steigen. Und dann sorgte der Ausbruch des Tambora 1815 in Indonesien für das sogenannte Jahr ohne Sommer. Die monströse Explosion des Vulkans beförderte derartige Mengen Asche in die Atmosphäre, dass weltweit Ernten ausfielen. Menschen hungerten, und Pferde zu unterhalten, wurde noch teurer als zuvor schon. Drais trieb die Idee an, einen mechanischen Ersatz zu konstruieren. Eine Maschine, die nicht gefüttert werden musste. Ressourcenknappheit kurbelte die Erfindung des Fahrrads an; so wie in der Gegenwart das Rad als Verkehrsmittel auch aus ökologischen Gründen eine Renaissance erlebt.

Auf seiner Jungfernfahrt legte Drais 12,8 Kilometer zurück - innerhalb einer Stunde. Die Laufmaschine zeigte sich damit Postkutschen überlegen. Diese rumpelten mit Geschwindigkeiten von wenig mehr als drei Kilometern pro Stunde über die ziemlich erbärmlichen Straßen. Es war wie heute: Auf kurzen Distanzen bis fünf Kilometer ist das Rad in der Stadt auf jeden Fall das schnellste Verkehrsmittel. Damals übertrumpfte es die Postkutsche, heute rollen Radler geschmeidig an langen innerstädtischen Staus vorbei und kommen schneller voran. Konflikte zwischen Verkehrsteilnehmern gab es übrigens bereits zu Drais' Zeiten. Sieben Monate nach der Jungfernfahrt verbot Mannheim den wenigen Fahrern der Laufmaschine, Bürgersteige zu nutzen - zum Schutz der Passanten. Der Radler als Rowdy, auch dieses Bild verfügt über eine lange Tradition.

Spielzeug für die Oberschicht

Die Zweiräder des Freiherrn gerieten dennoch in Vergessenheit. Die Geräte waren trotz allem zu teuer, lediglich der Adel und das reiche Bürgertum verfügten über die nötigen finanziellen Mittel sich so ein Spielzeug zu kaufen. Das änderte sich zunächst auch nicht, als die Laufmaschine in den 1860er-Jahren in Frankreich einen entscheidenden Schritt weiterentwickelt wurden. Der Wagenbauer Pierre Michaux oder Pierre Lallement - darüber herrscht keine Einigkeit - statteten das Vorderrad als Erste mit Tretkurbeln aus, ein entscheidender Schritt in der Fahrradwerdung. Ein Problem jedoch bremste die frühen Radfahrer im Wortsinne: Eine Pedalumdrehung entsprach einer Umdrehung des Rades. Das limitierte die Geschwindigkeit.

Die frühen Tretkurbelvelocipede des Unternehmens Michaux & Cie wurden aus Gusseisen gefertigt oder geschmiedet. Die ohne Zweifel robusten Geräte wogen teils mehr als 40 Kilogramm, ein enormes Gewicht, das eine Fahrt zur Tortur mit Muskelkatergarantie machte. Trotzdem erlebte das Tretkurbelvelociped einen erstaunlichen Boom in Frankreich, Großbritannien und den USA. Dort lösten Konstrukteure in den 1870er-Jahren das Gewichtsproblem, indem sie hohle Gasrohre nutzten, um daraus Fahrradrahmen zu fertigen. Auch das Gewicht sogenannter Sociables, mehrrädrige Fahrräder, auf denen mehrere Personen in die Pedale traten, ließ sich so reduzieren und brauchbar machen. Carl Benz verwendete für seinen Wagen, den er 1886 in Mannheim vorstellte, ebenfalls Gasrohre. Er kopierte die Idee amerikanischer Fahrradbauer, um das Gewicht seiner Maschine gering zu halten - auf dass der Motor den Wagen bewegen konnte. Die Räder stammten im Übrigen aus der Hochradfabrik Kleyer in Frankfurt am Main, das erste Auto bestand größtenteils aus Fahrradkomponenten. Da klingt es schlüssig, dass die Konstruktionen von Benz und Daimler damals als Fahrräder oder Motorvelozipede bezeichnet wurden.

Das Problem der beschränkten Geschwindigkeit gingen Konstrukteure mit der Neuerfindung des Rades an - das Zugspeichenrad. Der Brite James Starley, der später als "Vater der Fahrradindustrie" bezeichnet wurde, entwickelte ein Rad mit dünnen Metallspeichen in Massenproduktion. Dadurch wurden die Räder so leicht und stabil, dass sie in immer größeren Umfängen gefertigt werden konnten. Die Zeit der Hochräder brach an: Wenn eine Pedalumdrehung einer Radumdrehung entspricht, dann machen wir die Räder einfach immer größer, so die Überlegung. Starley präsentierte sein Modell namens Ariel, dessen Vorderrad einen Durchmesser von 1,25 Metern hatte.

Kurbeln und Radnaben dieser Modelle wurden zudem erstmals in großem Umfang mit Kugellagern ausgestattet. Das verringerte die Reibung bei der Raddrehung massiv, so ließen sich mit Hochrädern Geschwindigkeiten von mehr als 30 Kilometern pro Stunde erreichen - und das eigene Leben aufs Spiel setzen. Stießen die auch "Dandy Horses" genannten Geräte an ein halbwegs großes Hindernis, einen Stein, ein Schlagloch, dann stürzten die Fahrer aus beträchtlicher Höhe auf den Schädel und machten einen "Header" wie die reichen britischen Schnösel das nannten, die sich damals ein solches Prestigeobjekt leisten konnten.

Leichte, stabile Laufräder, gewichtsreduzierte Rahmen, Kugellager: Wichtige Zutaten für die Entwicklung des Automobils hatte die frühe Fahrradindustrie damit ins Ersatzteillager der Motoristen gelegt. Der Durchbruch kam mit der Erfindung des Nieder- oder Sicherheitsrades sowie dessen anschließender Produktion als erstes individuelles Massenverkehrsmittel. Der Brite John Kemp Starley, Neffe des Speichenrad-Konstrukteurs John Starley, verlegte den Schwerpunkt des Radlers aus der Höhe wieder in die Nähe der Straße - die Pedale treiben nun über eine Kette das Hinterrad an. Dieses 1885 im britischen Coventry vorgestellte Rover-Sicherheitsrad entspricht etwa jener Form, die Räder noch heute haben.

Binnen weniger Jahre stellte halb Coventry eigene Sicherheitsräder mit Diamantrahmen her; diese Rahmenform aus zwei Dreiecken ist bis heute jene, mit der fast alle Rädern konstruiert werden. Das Fahrrad in seiner gültigen Form war gefunden, und die mit Luft gefüllten Räder nach dem Prinzip des Schotten John Boyd Dunlop reduzierten die Erschütterungen, die einen Radler zuvor so kräftig durchgerüttelt hatten.

Schließlich präsentierte sich das Fahrrad gegen Ende des 19. Jahrhunderts als derart ausgereiftes Produkt, dass Firmen in die Massenproduktion einstiegen. Frühe Fahrräder waren noch handwerklich gefertigte Einzelstücke. Ersatzteile mussten auf jedes einzelne Rad angepasst werden. Fertigungsprinzipien aus dem Nähmaschinenbau, der Herstellung von Taschenuhren und Schreibmaschinen wurden nun übernommen, um den Ausstoß in Fahrradfabriken zu erhöhen und den Preis für ein Rad zu drücken. Kostete um 1890 ein Sicherheitsrad noch ungefähr 500 Mark, damals ein guter Jahreslohn eines deutschen Facharbeiters, fiel der Preis um die Jahrhundertwende auf etwa 100 Mark. Um die Nachfrage zu bedienen, hatten Hersteller wie die US-Marke Columbia Bicycles, die von John Kemp Starley in Coventry gegründete Rover Bicycle Company, Massenfertigungsverfahren entwickelt, die später von Ford und General Motors kopiert wurden. Sogar eine eigene Zulieferindustrie entstand.

Die purzelnden Preise verwandelten das Statussymbol in das erste massenhaften Individualverkehrsmittel, auf denen von 1910 an auch Arbeiter und Frauen mobile Freiheit erlebten. Viele Firmen, die einst als Fahrradhersteller begonnen hatten, nutzten ihr Wissen nun, um auf die Herstellung von Automobilen umzusteigen. Die Rover Bicycle Company stieg in die Autoproduktion ein, ebenso Peugeot, Opel, Morris und viele andere. Sie kopierten Fließbandtechniken, Herstellungsverfahren sowie die Werbestrategie der Fahrradbranche. Henry Ford - das nebenbei - war gelernter Fahrradmechaniker. Genauso die Brüder Wilbur und Orville Wright, die dem Rad das Fliegen beibrachten und das erste Motorflugzeug bauten.

Noch etwas übernahm die junge Autoindustrie: die Kampagnen für die Verbesserung der Straßen. In Großbritannien, den USA und Deutschland waren es zuvor Fahrradklubs, die sich engagierten, die Matsch-, Schotter- und Schlammpisten ihrer Länder so herzurichten, dass sie mit dem Fahrrad befahrbar wurden.

Dann brach nach dem Zweiten Weltkrieg die große Zeit des Automobils an. Nun hatten sich diese engen Verwandten des Fahrrads zu einem für die Massen bezahlbaren Produkt und Statussymbol gewandelt - auf den Schultern des Freiherrn Karl von Drais und seiner klobigen Laufmaschine. Dass sich Rad- und Autofahrer im Berufsverkehr so vieler Städte heute anschreien, liegt wohl daran, dass Räder zu popelig waren, um in den entscheidenden Jahren der Stadtplanung berücksichtigt zu werden. So müssen sich Radler heute ihren Platz zurückerobern. Eventuell nährt sie dabei der Gedanke, dass Rad und Auto keine natürlichen Feinde sind, sondern enge Verwandte; und in Familien wird eben besonders leidenschaftlich gestritten.

"2 Räder - 200 Jahre. Freiherr von Drais und die Geschichte des Fahrrades." Technoseum Mannheim. Bis 25. Juni 2017. www.technoseum.de

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Quelle:
SZ vom 12.11.2016
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