Süddeutsche Zeitung

Technik III:Verrat oder Kooperation?

Seitdem die militärischen Großmächte bei der Hyperschall-Technologie konkurrieren, leben die einschlägigen Forscher gefährlich. Der russische Geheimdienst inhaftiert Ingenieure ohne Gerichtsurteil.

Von Richard Stone

Während das Hyperschall-Wettrüsten eskaliert, bröckeln internationale Kooperationen - manchmal mit schwerwiegenden Konsequenzen für Forscher. Vor fast zehn Jahren arbeitete etwa der russische Raumfahrtingenieur Viktor Kudrjawzew an Transhyberian, einem Hyperschallprojekt, das größtenteils die Europäische Union finanzierte. Im Sommer 2018 verhaftete ihn der russische Geheimdienst (FSB); einige Monate später auch einen seiner Kollegen, den Physiker Roman Kowaljow. Beide wurden wegen Hochverrats angeklagt, weil sie angeblich Geheimnisse an "ein Nato-Forschungszentrum" weitergegeben haben sollen. Werden sie für schuldig befunden, drohen ihnen jeweils bis zu 20 Jahre Gefängnis.

Die Entscheidung des FSB, die Arbeit als geheim einzustufen, kam fünf Jahre nach dem Ende des EU-Projekts. Diese Entscheidung erhöhe die Verwundbarkeit jener russischer Wissenschaftler, die in Bereichen arbeiten, die möglicherweise militärische Anwendungen haben, sagt Boris Altshuler, theoretischer Physiker und Menschenrechtsaktivist am Lebedew-Institut in Moskau.

Das im Juni 2011 gestartete zweijährige Projekt sollte untersuchen, wie feindliche Raumschiffe wieder in die Erdatmosphäre gelangen. Bei Überschallgeschwindigkeit kann der laminare Luftstrom an einer Oberfläche plötzlich turbulent werden und an den Flugzeugen extreme Temperaturspitzen verursachen. Ein Forscherteam untersuchte diese Wärmeschwankungen im Windkanal und in Computersimulationen, unter anderem am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie in drei russischen Laboren. Darunter ist auch das Zentralforschungsinstitut für Maschinenbau (Tsniimash) in Koroljow, an dem beide nun verhafteten Wissenschaftler einst arbeiteten. Die Forschung zeigte, dass ein lokales Erwärmen oder Abkühlen der Oberfläche dazu beitragen kann, die Temperaturspitzen zu kontrollieren - ein Ergebnis, das das Design von Hyperschallflugzeugen verbessern könnte.

Als Projektkoordinator für Tsniimash übermittelte Kudrjawzew Forschungsergebnisse an die ausländischen Partner. Die Berichte wurden vom Militär genehmigt, sagt Kudrjawzew Anwalt Iwan Pawlow, ein bekannter Menschenrechtsanwalt.

Das Projekt zielte darauf ab, die Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU in der Erforschung des Hyperschall zu stärken, sag Herman Deconinck vom belgischen Von-Karman-Institut für Strömungsmechanik, das für die Koordination des Projekts zuständig war. Aber die Freundschaft bekam Risse, als die EU im Jahr 2014 Russlands Annexion der Krim verurteilte. Die Beziehungen kühlten 2018 weiter ab, als Analysten aus Europa russische Jubelmeldungen zu Hyperschallwaffen eher skeptisch sahen und Testfehler anmerkten. Russland stufte daraufhin einen Großteil seiner Hyperschallforschung als geheim ein; Kudryavtsev wurde in das Moskauer Lefortowo-Gefängnis gebracht.

Im November 2018 verweigerten ihm die Behörden schließlich Gefängnisbesuche, nachdem er einen Deal der Staatsanwaltschaft abgelehnt hatte, bei dem er sich schuldig bekennen sollte, sagt Pawlow. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schaltete sich im April 2019 in die Angelegenheit ein und wies Russland an, dem erkrankten Kudrjawzew medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Er wurde am 27. September 2019 nach der Diagnose eines metastasierten Lungenkrebses aus dem Gefängnis entlassen, sagt sein Sohn Jaroslaw Kudrjawzew, ein Polymerwissenschaftler. "Geistig ist Viktor stark genug, um nicht mit den Ermittlern zusammenzuarbeiten."

Nachdem es dem Geheimdienst tatsächlich nicht gelang, ein Geständnis aus Kudrjawzew herauszuquetschen, verhaftete der FSB den Physiker Roman Kowaljow. Berichten zufolge soll auch er sich geweigert haben, ein Geständnis abzulegen. Im Juli 2019 verhaftete der Geheimdienst schließlich einen dritten Tsniimash-Wissenschaftler, Sergeij Meschtscherjakow. Auch er wird des Hochverrats beschuldigt. Bei seiner Festnahme erlitt er einen Herzinfarkt. Die Behörden haben sich noch nicht zu der Frage geäußert, wann die drei Forscher vor Gericht gestellt werden.

Am 29. Oktober 2019 erklärte das VonKarman-Institut schließlich, dass man keinen Hinweis gefunden habe, wonach das Team von Kudrjawzew geheime Informationen preisgegeben habe. Sie forderte die Europäische Kommission auf, die Angelegenheit mit Russland nicht aus den Augen zu verlieren.

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SZ vom 21.03.2020
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