Robert Scotland von der University of Oxford zählt zu einer seltenen Spezies. Er ist Taxonom. Ein Experte also für die Bestimmung und Benennung von Arten. Weltweit gibt es nur einige Tausend Wissenschaftler, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben. Die Konsequenz des Mangels: "Jedes zweite Objekt in naturhistorischen Sammlungen könnte falsch deklariert sein", schätzt Scotland. Das sei nicht bloß bei Sammlungen von Museen und botanischen Gärten der Fall. Auch in öffentlich zugänglichen Datenbanken seien viele fehlerhafte Namen zu finden.
Die Folgen könnten weitreichend sein. Schließlich werden Informationen aus diesen Datenbanken für biologische Studien zu Evolution, Artenvielfalt, Klimawandel und zur Planung von Artenschutzprojekten genutzt. Die fehlerhafte Etikettierung könnte also Simulationen und Prognosen zu wichtigen Zukunftsthemen verfälschen, befürchten Forscher.
Oft sind Teile ein und derselben Pflanze unterschiedlich deklariert
Scotlands Schätzung fußt auf einer Studie, die kürzlich im Fachmagazin Current Biology erschienen ist. Das Team des Briten hat zusammen mit Fachkollegen vom Botanischen Garten Edinburgh drei tropische Pflanzengattungen genauer untersucht, darunter die sogenannte Afromomum, die zu den Ingwergewächsen zählt. Rund 4500 Objekte in Form von gepressten Blüten, Blättern und Stängeln haben sich die Forscher von 40 Sammlungen in 21 Ländern geliehen und untersucht. "Fast 60 Prozent davon waren bis vor Kurzem entweder falsch, mit veralteten Namen, unvollständig oder gar nicht bezeichnet", sagt Scotland. Nur dank einer Monografie, die vergangenes Jahr veröffentlicht wurde, konnten die Fehler letztlich korrigiert werden.
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Die Taxonomen förderten allerdings noch andere beunruhigende Erkenntnisse zutage. Am Beispiel einer asiatischen Tropenbaumgattung fanden sie heraus, dass selbst Teile von gleichen Pflanzen in verschiedenen Museen oft unter unterschiedlichen Namen geführt werden. Und sie stellten fest, dass Bezeichnungsfehler auch in die großen Datenbanken weitergetragen werden. Zum Beispiel im Fall der Pflanzengattung Ipomoea, zu der auch die Süßkartoffel zählt. Von dieser Gattung waren in der Online-Datenbank Global Biodiversity Facility (GBIF) mehr als die Hälfte der Sammelstücke fehlerhaft bezeichnet. Rund 40 Prozent der Namen waren veraltet, 16 Prozent falsch, und bei elf Prozent fehlte die Artenbezeichnung komplett.
Wer gerne ins Naturkundemuseum geht, muss sich von solchen Zahlen aber nicht abschrecken lassen. Zum einen gelten die Schätzungen der Briten nur für Blühpflanzen und Insekten - bei Letzteren könnte die Fehlerquote allerdings sogar noch höher liegen. "Zum anderen wird immer nur ein kleiner und in der Regel sorgfältig geprüfter Bruchteil der Sammlungsobjekte öffentlich ausgestellt, die Spitze des Eisbergs sozusagen", sagt Scotland.
Das bestätigt auch Michael Ohl vom Naturkundemuseum in Berlin. "Von rund 30 Millionen Sammlungsobjekten kommen nur etwa 3000 in die Ausstellung", sagt er. "Und die sind tipptopp geprüft." In den Archiven dagegen bestehe das Problem tatsächlich. Ohl ist Wespenexperte und hat gleich nach der Lektüre der Studie die museumseigene, rund 50 000 Exemplare umfassende Wespensammlung mit einer Überschlagsrechnung geprüft. "Grob geschätzt ist jedes zehnte Präparat falsch bezeichnet", sagt er. Hinzu kämen Arten mit veralteten oder unvollständigen Bezeichnungen.
Es gibt mehrere Gründe für die irreführenden Etiketten. "Meistens handelt es sich nicht um Fehler im eigentlichen Sinn", betont der Biologe. Viele Pflanzen- und Tierarten trügen schlicht verschiedene Namen, von denen eben nur einer nach den aktuellen Nomenklaturregeln gültig ist. Mitunter haben Gewächse mehr Aliasse als ein Geheimagent. Für Austern und Regenwürmer zum Beispiel, die sehr unterschiedlich aussehen können, gibt es Dutzende Synonyme.
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Auch Walter G. Berendsohn vom Botanischen Garten und Botanischen Museum der Freien Universität Berlin glaubt, dass nur wenige der nicht regelkonformen Bezeichnungen wirklich falsch sind. "Bei uns werden regelmäßig von Experten Klebezettel mit Namenskorrekturen an die Sammlungsobjekte geheftet." Meist sei das der Tatsache geschuldet, dass Gattungs- und Artenbezeichnungen keine fixen Größen sind. Die Namen ändern sich immer mal wieder, zum Beispiel durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse und die Anwendung aktueller Nomenklaturregeln.
Es gibt zu wenige Taxonomen, die falsche Bezeichnungen erkennen können
"Oft werden neue 'versteckte' Arten entdeckt, die sich nicht äußerlich unterscheiden, aber durchaus unterschiedliche Eigenschaften haben", erzählt er. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar. So ist beispielsweise der Brotnussbaum aus Panama lange für eine andere Art gehalten worden als jener, der in Mexiko beheimatet ist. "Heute hat man Sammlungsbelege aus ganz Mittelamerika und weiß, dass es sich nur um eine Art handelt", sagt Berendsohn. In den vergangenen 20 Jahren, seitdem auch das Erbgut zur Artenbestimmung mit herangezogen werden kann, habe es eine Flut an Informationen dieser Art gegeben.
Dass die fehlerhaften Bezeichnungen auch in Online-Datenbanken landen, findet Berendsohn eher gut als schlecht. Die Gefahr, dass die falsch etikettierten Pflanzen Studien verfälschen könnten, hält er für klein. "Es gehört zur wissenschaftlichen Praxis, historische Rohdaten kritisch zu prüfen, bevor sie für weiterführende Untersuchungen genutzt werden", sagt er. Und wer dabei eine fehlerhafte oder veraltete Bezeichnung entdecke, könne diese gleich korrigieren. "Die Daten werden ja nicht besser, wenn man sie versteckt hält."
Einig sind sich die Experten, dass es zu wenige fachkundige Taxonomen gibt, um alle falschen und irreführenden Namen schnell aus der Welt zu schaffen. Zumal die Zahl der Sammlungsobjekte in den vergangenen 50 Jahren geradezu explodiert ist, wie Robert Scotland berichtet. Der Aufwand sei immens. An der Monografie zu den Afromomum-Arten beispielsweise hätten seine Kollegen aus Edinburgh 15 Jahre lang gearbeitet. Entsprechend teuer seien solche Untersuchungen. Knapp 700 Euro pro Art müsse man veranschlagen. "Um allein die tropische Flora korrekt zu erfassen, bräuchte man das Jahresgehalt eines Fußballstars wie Lionel Messi."