Süddeutsche Zeitung

Tätowierung:Das wird mir zu bunt

Die EU diskutiert über das Verbot zweier Pigmente, die in den meisten Tattoofarben enthalten sind. Sie seien gefährlich. Tätowierer sagen: Stimmt nicht. Blickt man genauer hin, merkt man: Gar nicht so einfach.

Text von Julia Kopatzki, Fotos von Alessio Paduano

Schon draußen ist es bunt. "Tschiggys Bubblegum Art Tattoo" steht auf dem Schild in leopardengemusterter Schrift, das über der Bank hängt. Die Wand im Wartebereich des Tattoostudios ist knallgrün gestrichen, in der Ecke über der schwarzen Couch hängen die "Wanna-Dos", bereits gezeichnete Motive, die nur darauf warten, dass jemand sie unter der Haut haben will: grinsende Katzen und Koalas, bunte Einhörner, so bunt wie die Künstlerin Tschiggy selbst. Am Ansatz ihres rubinroten Haars leuchtet ein frisches Tattoo: eine Muschel, die von Leopardenmuster umgeben ist. Über ihrer Augenbraue steht verschnörkelt "Ahoi".

Seit 25 Jahren arbeitet Tschiggy als Tätowiererin, seit zehn Jahren gehört ihr das kleine Tattoostudio im Hamburger Schanzenviertel. "Ich habe mir das noch mal aufgeschrieben. Ich bin ja keine Chemikerin", sagt sie an diesem Morgen und blickt auf das weiße Blatt. Später greift sie zu einer kleinen Flasche voll türkiser Farbe, guckt auf das Etikett und sagt: "CI 74160. Ja, die wäre auch betroffen."

Die beiden Pigmente sind in zwei Drittel aller verfügbaren Tätowierfarben enthalten

Betroffen, falls das von der Europäischen Chemikalienagentur empfohlene Verbot zweier Pigmente in Tätowierfarben tatsächlich beschlossen wird. Es geht um die Pigmente Green 7, CI 74260, und Blue 15, CI 74160, ein dunkles Grün und ein strahlendes Blau, die benötigt werden, um Tätowierfarben herzustellen. Nicht nur Grün- und Blautöne, sondern auch Nuancen von Rot oder Pink oder Hautkorrekturtöne. Die beiden Pigmente sind in zwei Drittel aller weltweit verfügbaren Tätowierfarben enthalten. Würden sie verboten werden, so gäbe es, Stand heute, keinen adäquaten Ersatz. Die Farbpalette für Tattoos würde sich radikal verkleinern, allen Tätowierern in der EU blieben bloß noch Schwarz, Rot- und Gelbtöne.

Gerade ist, das kann man nicht ignorieren, die größte Sorge der meisten Tattoostudios in Deutschland, wann sie wieder öffnen werden, ob sie überhaupt wieder öffnen können. Doch die Entscheidung über das Verbot ist bloß vertagt. Sollte das Verbot beschlossen werden, wird es zur nächsten Herausforderung der Studios.

2017 reichte die Europäische Chemikalienagentur, kurz ECHA, einen 90-seitigen Vorschlag bei der EU-Kommission ein, welche Inhaltsstoffe in Tätowiermitteln zukünftig verboten sein sollten. Ziel war es, Tätowierungen sicherer zu machen. Denn obwohl ein Tattoo eine Entscheidung fürs Leben ist, sind die Stoffe kaum reguliert und ihre Wirkung kaum erforscht.

Erst seit 2009 gibt es in Deutschland eine Verordnung, in der jene Stoffe gelistet sind, die auf keinen Fall in den Farben zu finden sein dürfen. Bis heute weiß niemand sicher, was die erlaubten Stoffe in der Haut eigentlich machen. Weniger, weil es so schwer herauszufinden wäre, sondern vor allem, weil kaum Forschung in Auftrag gegeben wird.

Ohne weitere Forschung zu betreiben, wollten die Antragssteller das Tätowieren sicherer machen. Sie berufen sich vor allem auf die europäische Kosmetikmittelverordnung, in der festgelegt ist, welche Stoffe in Kosmetika erlaubt und verboten sind. Denn was nicht auf die Haut darf, sollte erst recht nicht unter sie. Die strittigen Pigmente Green 7 und Blue 15 findet man in der Kosmetikmittelverordnung, dort sind sie "als Stoff in Haarfärbemitteln" seit 2009 verboten.

Weder Green 7 noch Blue 15 zählen zur Gruppe der Azopigmente, beide enthalten keine aromatischen Amine

Die EU-Kommission berief sich bei dem Verbot für Kosmetika auf eine Studie aus dem Jahr 2001, die den Zusammenhang zwischen Haarfarben und Blasenkrebs untersuchte, nachdem aufgefallen war, dass Friseure häufig daran erkrankten. Die Studie stellte fest, was man schon länger vermutete: Es gibt tatsächlich einen Zusammenhang zwischen aromatischen Aminen und Blasenkrebs. Auch in Haarfarben kommen diese sehr wahrscheinlich krebserregenden Stoffe vor. Sie sind Bestandteile von Farbmitteln. Als Reaktion verbot man in Deutschland und der EU Azofarbstoffe und -pigmente für Kosmetika - und für Tätowierfarben.

Allerdings gehören weder Green 7 noch Blue 15 zur Gruppe der Azopigmente, beide enthalten keine aromatischen Amine. Außer, dass auch sie Pigmente sind, haben sie mit den Azopigmenten nichts gemein. Dass sie auf der Liste der verbotenen Stoffe für Kosmetikmittel stehen, geschehe vor allem aus Vorsicht, sagt das Bundesamt für Risikobewertung ebenso wie die Bundesstelle für Chemikalien.

Jörn Elsenbruch wird ziemlich sauer, wenn er das hört. Seit 30 Jahren führt er das "Magic Moon" in Erkelenz, das Stammstudio vieler Spieler von Borussia Mönchengladbach, Vereinsfarben Schwarz, Weiß und Grün. Bald könnte das Grün für Fan-Tattoos wegfallen. Damit das nicht passiert, hat Elsenbruch im Januar eine Petition gestartet, in der er den Bundestag auffordert, das geplante Verbot zu verhindern. Am 15. Januar ging die Petition online, zwei Tage später zählte sie bereits mehr als 100 000 Unterschriften.

Wer muss eigentlich die nötige Evidenz liefern? Diejenigen, die die Pigmente anwenden?

Elsenbruch hat auf einem Kongress in Bern von dem geplanten Verbot erfahren. Schnell sei ihm klar gewesen, dass das Vorhaben seine Branche bedrohe. "Keiner hat eine wissenschaftliche Basis für das Verbot geschaffen", sagt er. "Und das können wir uns nicht gefallen lassen." Also brachte er alle deutschen Lieferanten für Tätowiermittel an einen Tisch und erzählte ihnen von seiner Idee der Petition. Er versammelte auch die Tattooverbände und machte sie zu Partnern der Petition. Gemeinsam haben sie dann die Forderungen entwickelt, Plakate und Broschüren designt. Und als die Petition schließlich online ging, wussten alle, was zu tun war. "Wir sind bunt, nicht dumm", sagt Jörn Elsenbruch. Als die Petition nach einem Monat endete, zählte sie insgesamt 151 679 Unterschriften. Nur die offizielle Übergabe an den Petitionsausschuss muss nun auf die Postcorona-Zeit warten.

Elsenbruch und seine Mitstreiter kritisieren insbesondere die aus ihrer Sicht widersprüchliche Kosmetikmittelverordnung. Der Beschränkungsvorschlag der ECHA von 2017 widmet der besonderen Rolle von Blau und Grün als Pigmente immerhin eine ganze Seite: Sie seien essenziell für Tätowierungen, es gäbe keinen bekannten Ersatz, ist darin zu lesen. Ja, die Farben seien für Haarfärbemittel verboten, aber in einer anderen Tabelle ohne Einschränkung erlaubt. Tatsächlich widerspricht sich die Kosmetikvermittelordnung in ihren Anlagen selbst.

"Wir haben so oft schon gesagt, dass die Verknüpfung mit der Kosmetikmittelverordnung unglücklich ist", sagt Elsenbruch. Der Beschränkungsvorschlag zeigt warum: Viele der verbotenen Stoffe stünden deswegen auf der Liste, weil Kosmetikfirmen schlicht keine Daten geliefert hätten, die eine weitere Verwendung gerechtfertigten, schreiben die Autoren des Antrags. Und Tätowierer, obwohl sie von der Regelung betroffen sind, durften keine Daten liefern, da ihre Farben nicht in den Geltungsbereich der Kosmetika fallen. Einfach ausgedrückt: Der Angeklagte durfte sich nicht verteidigen.

Dänemark, Italien und Norwegen plädieren deswegen in ihrem Vorschlag gemeinsam mit der ECHA dafür, 4000 Stoffe zu verbieten, darunter Green 7 und Blue 15. "Ein Risiko für die Substanzen kann nicht bewiesen werden", schreiben sie. Doch aufgrund der schlechten Datenlage lässt sich auch nicht das Gegenteil, also die toxikologische Unbedenklichkeit, beweisen. Denn solche Gutachten sind sehr teuer, bisher wurden sie schlicht nicht durchgeführt.

Genau hier zeigt sich das wissenschaftliche Dilemma rund um das Verbotsvorhaben. Obwohl Tätowiermittel in den Körper gelangen, sind sie bislang kaum reguliert und müssen, anders als etwa Medikamente, auch keine klinischen Studien und Zulassungsverfahren durchlaufen. Die große Frage daher lautet: Wer muss eigentlich die nötige Evidenz liefern? Diejenigen, die die Pigmente anwenden? Oder diejenigen, die sie gerne verbieten möchten?

Eine Antwort auf diese Frage ist nicht leicht zu finden, und die Datenlage ist weiterhin denkbar schlecht. Als gesichert gilt immerhin, dass sich Tattoofarben in den Lymphknoten absetzen und auch Hautreizungen und Allergien auslösen können, auch Jahre später noch. Das aber gilt für alle Tattoos, ganz gleich welche Pigmente verwendet werden.

Und so ist die Interpretation dieser Erkenntnisse äußerst knifflig: "Bis heute konnte kein Zusammenhang zwischen Tätowierungen und Krebserkrankungen festgestellt werden", sagt Michael Giulbudagian vom Bundesamt für Risikobewertung in der Fachgruppe für Nanotechnologie und Produktbeschaffenheit. Chronische Krankheiten wie Krebs würden in der Regel erst Jahre nach der Belastung auftreten und seien daher schwer mit bestimmten Tattooinhaltsstoffen zu verknüpfen.

80 Prozent aller Tätowierungen rufen Hautirritationen hervor

Diese Langzeiteffekte hat auch Wolfgang Bäumler im Blick, der vor zwanzig Jahren damit begonnen hat, Tattoos wissenschaftlich zu erforschen. "Man weiß letztendlich bis heute nicht, was Tätowierungen bewirken", sagt Bäumler, der an der Klinik und Poliklinik für Dermatologie der Uniklinik Regensburg forscht. Bekannt sei zwar, dass Pigmente aus der Haut in andere Organe wandern können, aber ob das nun schädlich ist, könne niemand sagen. "Die einen bekommen Allergien, die anderen nicht." Seit Jahren fordert Bäumler daher mehr klinische Forschung, doch seine Anträge werden immer wieder abgelehnt. Tätowieren sei nun mal ein freiwilliger Prozess, also dürfe es dafür keine Tierversuche geben, heißt es in den Begründungen. "Dabei sind 20 Prozent aller Deutschen tätowiert und es werden nicht weniger. Es ist wichtig, dass wir endlich mehr darüber wissen und nicht einfach verbieten."

Ähnliches berichtet die niedergelassene Dermatologin Katharina Schürings: "80 Prozent aller Tätowierungen rufen Hautirritationen hervor". Als Hautirritationen gelten allerdings bereits Rötungen, eine relativ normale Folge, wenn man sich mit einer winzigen Nadel Farbe unter die Haut schießen lässt. Allerdings müsse man sich jetzt auch keine Sorgen machen, wenn man Tattoos mit grünen oder blauen Anteilen hat, sagt die Ärztin. "Auf keinen Fall. Sie haben ja jetzt das Tattoo. Weglasern würde es auch nicht besser machen."

Michael Dirks hat zehn Jahre lang selbst Tattoofarben hergestellt. Er ist Lacklaborant und Chemieingenieur und wollte einst für seine Diplomarbeit unbedenkliche Tätowierfarben entwickeln. Dabei schloss Dirks 2007 schon aus, was zwei Jahre später verboten wurde: die krebserregenden Azopigmente, die er vor allem in Rot- und Orangetönen fand. Er wich auf polyzyklische Pigmente aus, wie Green 7 und Blue 15. Jede Farbe habe er an sich selbst getestet, seine Oberschenkel seien "voll von Murks". Heute berät er die Tätowierszene und weiß: "Es gibt keine brauchbaren Alternativen zu den beiden Pigmenten." Denn große Chemiekonzerne, die neue Pigmente entwickeln, tun dies für Autos, Kosmetik oder Kleidung - nicht aber für eine Nische wie Tattoos.

"Irgendeine Alternative werden sie schon haben, dann nehmen wir die."

Kommt das Verbot tatsächlich, könnte dies die Gesundheitsgefahren für die Kunden sogar erhöhen, fürchtet Dirks. Viele Tätowierwillige, so seine Befürchtung, würden sich dann im EU-Ausland, etwa in der Schweiz oder England tätowieren lassen - oder im Urlaub in Asien oder Südamerika, nicht selten unter schlechten hygienischen Bedingungen. "Die zerschlagen einfach das Sicherheitsniveau", sagt Jörn Elsenbruch. Seit Jahren kämpfen die Verbände für einheitliche Hygienerichtlinien und einen Sachkundenachweis - denn aktuell kann jeder mit einem Gewerbeschein als Tätowierer arbeiten. Die geplante Verordnung droht das Tattoostechen wieder zum Hinterzimmergeschäft zu machen.

Selbst in Berlin blickt man unschlüssig auf den Vorschlag der ECHA. Gitta Connemann ist stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende im Bundestag und arbeitet seit 2017 mit den Tattooverbänden zusammen. "Die haben damals von sich aus Alarm geschlagen", sagt sie. "Weil sie Regelungen und Standards für notwendig halten." Die Politikerin hofft, dass die für die Farben dringend nötigen Studien eines Tages kommen. "Es geht um die Sicherheit und Gesundheit von Verbrauchern und Tätowierern. Maßstab dafür muss die Wissenschaft sein." Auch Connemann macht sich Sorgen wegen der Alternativen: "Wenn Pigmente, die seit Jahrzehnten komplikationslos genutzt werden, nicht mehr zum Einsatz kommen, besteht die Gefahr, dass auf andere zurückgegriffen wird, die potenziell unsicherer sind."

Tatsächlich könnte es so kommen. Tschiggy, die Tätowiererin aus dem Hamburger Schanzenviertel, zuckt mit den Schultern: "Irgendeine Alternative werden sie schon haben, dann nehmen wir die." Irgendeine Alternative heißt aber auch: Farben, über die noch weniger Tests vorliegen, über die man gar nicht weiß, wie sie sich in der Haut verhalten und ob die vielleicht gefährlich sind. "Kommt das Verbot, fangen wir mit unseren Erfahrungen wieder von vorne an." Erfahrungen, die die Tätowierer meist bei sich selbst zuerst machen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4880115
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.04.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.