Täuschend echte Klanggebäude:Glenn Goulds algorithmische Variationen

Virtuos Klavier zu spielen, war bislang das Vorrecht großer Pianisten. Jetzt brechen andere Zeiten an: Computerwissenschaftler haben Formeln für musikalische Interpretation gefunden - und lehren Maschinen zu spielen wie die Meister.

Hubertus Breuer

In der Halle mit den Ausmaßen des Musiksaals in Richard Wagners Haus Wahnfried steht auf mattem Ahornparkett ein mächtiger Konzertflügel im Scheinwerferlicht. Im Halbschatten sitzt das Publikum. Es ist still. Nichts rührt sich. Nicht einmal ein befrackter Pianist bemüht sich auf die Bühne.

Täuschend echte Klanggebäude: Klavier-Spielereien: Was hier noch Finger übernehmen, kann mittlerweile auch der Computer.

Klavier-Spielereien: Was hier noch Finger übernehmen, kann mittlerweile auch der Computer.

(Foto: Foto: ddp)

Stattdessen drückt in einem Nebenraum ein Toningenieur einen Knopf - und das Piano beginnt, wie von unsichtbarer Hand bedient, die Aria aus Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen zu spielen.

Tasten, Pedale heben und senken sich mal bedächtig, mal geschwind, die Saiten schwingen. Und die Musik, die jetzt durch den Raum hallt, klingt nicht etwa hölzern und mechanisch, wie von einem Automatenklavier zu erwarten wäre.

Nein, das Spiel ist "transparent", "lupenrein" oder "geometrisch" - ganz so, wie Kritiker einst die frühe Aufnahme des begnadeten Klavierexzentrikers Glenn Gould gelobt hatten, der die Variationen 1955 im Alter von 23 Jahren einspielte. Kein Wunder: Das Geisterkonzert ist eine akustisch perfekte Kopie von Goulds Mono-Einspielung. Live, aber in Abwesenheit des Musikers.

Der Horowitz-Faktor

Virtuos zu spielen, war bislang das Vorrecht der großen Pianisten. Denn wie sollte man das eigenwillige Spiel etwa des späten Horowitz live reproduzieren, wenn nicht mit Hilfe der begnadeten Hände des Meisters selbst?

Da man Horowitz kaum aus dem Musikerhimmel zurückrufen kann, sind die Verehrer nach dem Tod auf verbliebene Tondokumente angewiesen, die allerdings, je älter, desto verrauschter klingen. Nun brechen andere Zeiten an. So versuchen österreichische Computerwissenschaftler seit einigen Jahren den "Horowitz-Faktor" quantitativ auf den Punkt zu bringen.

Und in dem Konzertsaal in Raleigh im US-Bundesstaat North Carolina tritt seit Beginn dieses Jahres eine gespenstische Ahnengalerie live mit Interpretationen an, die einstige Virtuosen vor langer, langer Zeit gespielt hatten.

Das automatische Klavier, ein Yamaha Disklavier Pro, liest das Gould-Stück von einer CD-ROM ab, die in einem Laufwerk über der Klaviatur steckt und die alle Tasten, Hämmer und Pedale mittels einer raffinierten Apparatur von Mikroprozessoren, Stahlzügen und Elektromagneten bis in die feinsten Nuancen dirigiert.

"Ich bin ein leidlich begabter Programmierer"

Dieses mehr technische als musikalische Arrangement ist das geistige Kind John Q. Walkers, des Chefs der Firma Zenph Studios: "Ich bin ein leidlich begabter Programmierer", erklärt Walker, der seine Ausführungen gerne mit Pointen unterbricht.

Seit drei Jahren arbeitet Walkers Firma daran, Pianistengötter wie Gould, den Altmeister Alfred Cortot (1877-1962) einschließlich manch falsch gespielter Note neu auftreten zu lassen. Auch eine luftige Improvisation des Jazzpianisten Art Tatum (1909-1956), aufgezeichnet 1955 während einer Party, lässt er von seinem Disklavier spielen - allerdings ohne Gläsergeklirre und Gelächter im Hintergrund, das den Hörgenuss der Originalaufnahme stört.

Vor drei Jahren hat Walker, ein geschulter Pianist und gewiefter Geschäftsmann, mit dem Geld aus dem Verkauf einer Softwarefirma und gemeinsam mit einem Partner die Zenph Studios gegründet. Ziel des neuen Unternehmens ist: einen Rechner darauf zu trimmen, dass er komplexe, von Pianistenhänden gebaute Klanggebäude so zerlegt, dass ein Disklavier sie täuschend echt nachspielen kann.

Dazu gehören nicht nur die hörbaren Noten, sondern auch, wie lange ein Pianist einen Ton hält, ob mit oder ohne Pedal und mit welchem Temperament er einen Tastenanschlag führte: also alles, was die Interpretation ausmachte.

Nach einem Verfahren analysiert, das Zenphs Geschäftgeheimnis bleiben soll, werden die Daten in eine so genannte Midi-Datei verwandelt. Diese sendet an die Klaviermaschinerie Kommandos, wie das jeweilige Stück zu spielen sei. Damit ist es einer Firma erstmals gelungen, Pianoaufnahmen bis aufs musikalisch fast letzte i-Tüpfelchen zu rekonstruieren.

Glenn Goulds algorithmische Variationen

Walker stellt jedoch klar, dass es nur um eine Reproduktion des Hörerlebnisses geht. Manche gespielte Note, die sich akustisch nicht wahrnehmen lässt, spielt sein Disklavier nicht nach. Denn: "Was wir nicht hören, ist vernachlässigbar", sagt Walker.

Die Musikindustrie zeigt bereits Interesse an der Methode - gibt es doch prallvolle Archive mit Monoaufnahmen, denen mancher Liebhaber gerne live oder digital in Stereo aufgezeichnet lauschen würde.

Der österreichische Computerwissenschaftler Gerhard Widmer jedoch steht solchen Erfolgsmeldungen skeptisch gegenüber: "Die Details gleichzeitig gespielter Noten zu unterscheiden, ist sehr schwierig, ganz zu schweigen von Besonderheiten der Artikulation oder des Pedals." Widmer erforscht mit einem Team an der Universität Wien und seit 1999 auch in Linz, was das einzigartige Ausdrucksvermögen eines Pianisten ausmacht, seinen individuellen Zugriff auf die Partitur - kurz: den "Horowitz-Faktor", wie Widmer einen Aufsatz überschrieben hat.

Dem will er nicht mit wolkigen Begriffen beikommen, wie sie Kritikern aus der Feder fließen, sondern mit quantitativen Methoden, die jenseits gespielter Noten das nuancierte Spiel in Komponenten wie Lautstärke, Tempo und Artikulation zerlegen.

Steckbriefe der Stil-Ikonen

Statt lediglich alte Monoaufnahmen zu neuem Leben zu erwecken wie Walker, geht es Widmer darum, die Charakteristika begnadeter Klaviervirtuosen mit lernenden Algorithmen zu erfassen. Ausgang seiner Forschungen waren 13 Mozartaufnahmen, die der Pianist Roland Batik auf einem Bösendorfer 290 SE aufgenommen hatte.

Dabei erfassten Lichtsensoren auf die Millisekunde genau, wie lange eine Taste gedrückt blieb, wie schnell der Hammer auf die Saiten schlug und die Stärke des Hubs auf den Pedalen. Die mit dem Hightech-Flügel registrierten Daten - immerhin 106000gespielte Noten - konnte Widmer durch Lernautomationen auf bestimmte, nicht in der Partitur vorkommende Regelmäßigkeiten hin durchsuchen.

Was seine Arbeitsgruppe auf diesem Wege entdeckte, war die individuelle Art des Spiels des Pianisten - beispielsweise ein Ritardando oder Crescendo, wo die Partitur keinerlei Tempovergaben vermerkt. Später fügte Widmer seiner Musikbibliothek weitere Aufnahmen großer Pianisten hinzu, um herauszufinden, was an einer Spieltechnik tatsächlich individuell und was den meisten Pianisten gemeinsam ist.

So entdeckte er Regeln, die scheinbar alle Klaviervirtuosen befolgen. Gehen zum Beispiel einem längeren Ton zwei Noten gleicher Länge voraus, wird die zweite Note meist ein wenig länger gespielt.

Graphisches Verlaufsprofil

Was einen Klavierspieler darüber hinaus auszeichnet, ist sein persönlicher Dialekt, den Widmers Forschungsteam mit graphischen Mitteln vor Augen führt: Auf einem Bildschirm kringelt sich ein "Musikwurm" nach oben oder unten, wenn die Lautstärke steigt oder fällt, nach links oder rechts, wenn sich das Tempo verändert. So entsteht ein graphisches Verlaufsprofil, das von Pianist zu Pianist beim selben Musikstück leicht bis drastisch variiert.

Hat man einmal einen solchen Steckbrief für diverse Interpreten entwickelt, kann das Programm die Klavierspieler auch in unbekannten Aufnahmen erkennen. "Unsere Trefferquote ist erstaunlich gut", sagt Widmer, schränkt aber ein: "Was die Kunst großer Pianisten angeht, kratzen wir erst an der Oberfläche."

So darf man weiterhin von keinem Computer erwarten, dass er ein Stück gekonnt im Stil von Horowitz oder Batik anstimmt. "Wir sind froh und glücklich, wenn der Computer überhaupt vernünftig zu spielen lernt", sagt Widmer.

Doch reichte das Potential seines digitalen Klavierschülers immerhin aus, 2002 den zweiten Preis eines internationalen Wettbewerbs in Tokio zu gewinnen, bei dem mehrere Computer am Klavier gegeneinander antraten. Solche Spielereien helfen Widmer zu kontrollieren, ob er das raffinierte Tastenspiel eines Pianisten wenigstens annähernd richtig verstanden hat.

Chopins Dynamik

Andere Anwendungen sind praxisnäher. So hat Widmer mit seiner Arbeitsgruppe ein Instrument entwickelt, das es erlaubt, die Dynamik beispielsweise eines Chopin-Preludes mit der Bewegung einer Hand zu steuern.

Möglich ist das mit einem aus zwei Antennen bestehenden Gerät, Theremin genannt, das die Handbewegungen misst und an den Computer weiterleitet, der seinerseits die Aufnahme entsprechend manipuliert. Außerdem hat das Team seine Aktivitäten inzwischen auch auf andere, kommerziell relevante Fragen ausgedehnt, etwa, das Internet oder Archive nach Stücken eines bestimmten Genres zu durchsuchen.

Der Amerikaner Walker sieht all diese Aktivitäten mit Wohlgefallen: "Mit dem vertieften Verständnis von Musikinterpretation und verbesserter Technologie werden sich ganz neue Perspektiven für die Industrie eröffnen." Vielleicht alle Klavierstücke von Franz Schubert im Gould-Stil. Oder eine mechanische Violine, die Monoaufnahmen von Jascha Heifetz neu erklingen lässt.

Bis es soweit ist, wird Walker seine junge Firma vielleicht schon verkauft haben. Hat er Zweifel an der eigenen Technologie? Der rastlose Unternehmer lächelt und lässt die Aufnahme des Disklaviers und die Einspielung Goulds von 1955 gleichzeitig über zwei Lautsprecher spielen. Eine Abweichung von nur Sekundenbruchteilen ließe ein Echo entstehen. Es ist nichts zu hören.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: